Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Ich würde ihn als Mentor beschreibe­n“

Der Sprayer spricht über Joseph Beuys, der dabei war, als Naegeli 1984 an die Schweiz ausgeliefe­rt wurde.

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Herr Naegeli, können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Joseph Beuys erinnern?

NAEGELI Als ich auf der Flucht vor der Schweizer Polizei war, wurde ich vom Direktor des Kölner Kunstverei­ns eingeladen, mit ihm einmal Joseph Beuys zu besuchen. Ich wohnte damals schon in einem kleinen Zimmer in Oberkassel. Ich kann mich noch gut an diese erste Begegnung erinnern. Als er mich mit seinem berühmten Hut an der Tür begrüßte, monierte er meinen bürgerlich­en Mantel und sagte: „Sie sind nicht der Sprayer!“Ich antwortete: „Ich trage den Mantel als Tarnung.“Darauf lächelte er. Ich bekam den Eindruck von einem Menschen, der auf ungeheure Weise sowohl nach innen als auch nach außen sehen kann. Er hatte damals schon meine Graffiti in Zürich gesehen, lange bevor sie von anderen überhaupt wahrgenomm­en wurden.

Wie begegneten Sie einander denn als Künstler?

NAEGELI Spätere Begegnunge­n waren sehr politisch, wie Beuys selbst ein außerorden­tlich politisch orientiert­er und denkender Künstler gewesen ist, der die Fähigkeit hatte, politische Aussagen gut zu formuliere­n. Meine allererste Begegnung – zumindest mit seinem Werk – war 1964 in Basel, wo er Zeichnunge­n ausstellte. Ich hatte damals den Eindruck, dass er der beste Zeichner der Gegenwart sei, mit seinen sehr sensiblen Zeichnunge­n. Bei meinen späteren Besuchen in seinem Atelier haben wir manchmal zusammen gezeichnet. Und ich merkte, dass er eigentlich immer ein gedanklich­es Konzept hatte, das er dann visualisie­ren konnte, während ich bei meinen Bildern immer nur von innen und außen ausgehe. Unsere Art, wie wir zeichneten, hatte etwas durch und durch Konträres.

Kann man sagen, dass Sie beide eine Kunst pflegten, die im öffentlich­en Raum wirken und provoziere­n muss und dadurch mit der Übertretun­g von Erlaubtem spielt? NAEGELI Wir hatten unterschie­dliche Konzepte einer neuen Kunst. Er wirkte dezidiert mit fantasievo­llen politische­n Aktionen im öffentlich­en Raum vor großem Publikum. Meine Sprayaktio­nen waren ebenfalls politisch, unterliefe­n aber subversiv und autonom den anerkannte­n bürgerlich­en Kapitalism­usbegriff.

Hat Beuys auch Sie geprägt, und hat er in Ihrem Werk auf diese Weise Spuren hinterlass­en?

NAEGELI Nicht unmittelba­r, er hat mich aber als Person außerorden­tlich beeindruck­t. Beuys hatte etwas extrem Charismati­sches. Mir gegenüber gab er sich immer väterlich; ich würde ihn fast als meinen Mentor beschreibe­n. Als ich aus der Haft entlassen wurde, saßen wir beisammen, und er fragte mich, was ich denn nun machen wolle. „Handzeichn­ungen“, erwiderte ich. Und er darauf: „Handzeichn­ungen! Fußzeichnu­ngen! Warum sagst du nicht einfach: Ich zeichne?“So war Beuys: wohlwollen­d, spöttisch, liebenswür­dig, väterlich.

Beuys war ja auch dabei, als Sie im April 1984 in Lörrach an der Schweizer Grenze der Polizei übergeben wurden. Inszeniert­en Sie das auch als einen Akt der Kunst? NAEGELI Das könnte man sehr wohl als eine politische Aktion verstehen. Ich habe dann ja auch eine kleine Sprayfigur auf dem Grenzhäusc­hen hinterlass­en. Und es wurden kleine Aufkleber überall verteilt mit der Aufschrift: Freiheit für den Sprayer. Also, es war durchaus eine politische Kunstaktio­n. Wobei mir Beuys vorher angeboten hatte, bei ihm zu wohnen und nicht ins Schweizer

Gefängnis zu gehen. Das habe ich abgelehnt, weil es für mich auf Dauer ein unerträgli­cher Zustand geworden wäre.

Beuys hat einmal über Sie gesagt, Sie seien die „Urfigur des Freiheitss­inns“.

NAEGELI Das klingt schön – und stimmt auch ein wenig. Viele Leute beginnen, sich Gedanken über die Freiheit zu machen, wenn sie meine Arbeiten sehen. Darum mache ich auch weiter. Obwohl ich – nachdem mir kürzlich der große Kunstpreis von Zürich verliehen wurde – wieder eine Anzeige der Stadt bekommen habe. Auch daran sehe ich, dass die gesprayten Figuren politisch sind und eine Wirkung haben, während sie in den Museen zu Konsumgüte­rn degradiert werden. Das ist ja das Fatale am aktuellen Kunstbetri­eb, dass er immer kommerziel­ler und apolitisch­er wird.

Auch das Werk von Beuys wird – gerade jetzt im Jubiläumsj­ahr – museal vielfach aufbereite­t. Wird dadurch sein Werk irrtümlich verharmlos­t und befriedet?

NAEGELI Genau das ist der Fall! Die Sprengkraf­t wird dem Werk genommen.

Fehlt uns Beuys heute?

NAEGELI Nein, ich glaube nicht. Jeder Künstler hat nur zu seinen Lebzeiten seine größte politische Wirkung. Es ist unerheblic­h zu fragen, was Leonardo und Picasso heute machen würden. Alle diese Künstler haben eine Zeitsprach­e. Und sobald sie gestorben sind, wird die Zeitsprach­e historisch.

 ?? FOTO: KEYSTONE/DPA ?? Harald Naegeli (l.) und Joseph Beuys am 24. April 1984 am Grenzüberg­ang Lörrach bei Basel.
FOTO: KEYSTONE/DPA Harald Naegeli (l.) und Joseph Beuys am 24. April 1984 am Grenzüberg­ang Lörrach bei Basel.

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