Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Amerika wird impfmüde
Die tägliche Zahl der Geimpften in den USA geht zurück, obwohl genug Vakzin vorhanden ist. Zu den Skeptikern gehören vor allem evangelikale Christen und Afroamerikaner – aus sehr unterschiedlichen Gründen.
NEW YORK „Verweigert euch dem experimentellen Vakzin!“, ruft der hochgewachsene Mann, während er eine Zeitung anpreist. Immer wieder, gebetsmühlenartig. „Reject the experimental vaccine!“Er steht an der Kreuzung Lenox Avenue/125th Street, mitten in Harlem, mitten in einem New Yorker Viertel, das sich als Mekka afroamerikanischer Kultur versteht. Die Botschaft, die er verbreitet, ist die von Louis Farrakhan. Der Prediger der Nation of Islam, bekannt für bisweilen abstruse Thesen, hat bereits vor Monaten postuliert, man dürfe dem Impfstoff nicht trauen. Die Regierung in Washington habe schwarze Amerikaner schon zu oft mit medizinischen Experimenten hinters Licht geführt, als dass man ihren Beteuerungen Glauben schenken könne.
Worauf Farrakhans These beruht, braucht man in Harlem keinem zu erklären. Das latente Misstrauen wurzelt in leidvollen Erfahrungen mit menschenverachtenden Versuchen, die in Tuskegee ihren traurigen Höhepunkt fanden. In der Kleinstadt in Alabama wurde an Syphilis erkrankten Schwarzen eine Behandlung vorgegaukelt, ohne dass man sie tatsächlich behandelte. Als wären sie Labortiere, sollten sie beobachtet werden, um den „natürlichen“Verlauf der Krankheit zu studieren. 40 Jahre lang, von 1932 bis 1972. Darauf bezieht er sich, der Mann an der Straßenkreuzung: Jeder hier weiß auf Anhieb, was mit dem Wort „experimentell“gemeint ist.
Auch deshalb predigt der Pfarrer Calvin O. Butts gegen Vorbehalte an, wenn er mahnt, dass man bitte gesundem Menschenverstand folgen möge. Die Corona-Impfungen seien das Gegenteil des Tuskegee-Kapitels, denn diesmal mache keine Regierung irgendwem etwas vor. Butts' Kirche, die Abyssinian Baptist Church, die nicht nur ein Gotteshaus ist, sondern auch ein kultureller Anker für Harlem, dient schon seit geraumer Zeit als Impfzentrum. Das Vakzin koste nichts, steht auf Transparenten, die der Reverend an einen Zaun binden ließ. Darunter die Freiheitsstatue. Mit MundNasen-Schutz.
Das Problem, das die USA seit zwei, drei Wochen haben, ist mit dem Begriff „vaccine hesitancy“gut beschrieben. Viele zögern, bevor sie sich impfen lassen – oder auch nicht. Impfstoff ist so reichlich vorhanden, dass seit dem 19. April jeder Erwachsene einen Termin vereinbaren kann. In New York wird niemand mehr abgewiesen, wenn er sich ohne Termin in die überschaubaren Warteschlangen vor den Impfzentren einreiht. Bei der Drogeriekette CVS gibt es Gutscheine: Eine Impfung bedeutet 20 Prozent Rabatt für den nächsten Einkauf.
Doch all das ändert nichts an den rückläufigen Zahlen. Waren es in der dritten Aprilwoche noch 3,4 Millionen US-Amerikaner, die an einem durchschnittlichen Tag eine Spritze bekamen, so sind es aktuell lediglich noch 2,4 Millionen. Und die regionalen Unterschiede sind groß. An der Spitze liegen vier Neuengland-Staaten, allen voran New Hampshire (61 Prozent mindestens einmal geimpft), gefolgt von Massachusetts, Connecticut und Maine. Das Schlusslicht bilden drei Bundesstaaten im Süden des Landes, Mississippi, Louisiana und Alabama, mit Quoten zwischen 31 und 33 Prozent.
Am geringsten ist die Impfbereitschaft unter evangelikalen Christen, die sich wiederum in ihrer großen Mehrheit zur Republikanischen Partei bekennen. Nach einer Erhebung der Monmouth University lehnen es zwei Fünftel der Anhänger der Republikaner ab, sich gegen das Coronavirus immunisieren zu lassen – Wähler der Demokraten nur zu fünf Prozent.
Gerüchte, nach denen bei der Herstellung der Impfstoffe Zelllinien abgetriebener Föten verwendet werden, haben Abtreibungsgegner offenbar in ihrer Skepsis bestärkt.
Den Hauptgrund aber sehen Kenner des Milieus in einer fatalistischen Weltsicht: Wenn Gott wolle, dass man sterbe, dann sei das eben so, auch wenn eine Covid-Erkrankung den Tod verursache.
Sean Daniels, Pastor einer Baptistenkirche in Kentucky, beobachtet bei vielen zudem eine ausgeprägte Aversion gegenüber wissenschaftlichem Fortschritt. Wann immer etwas neu sei, stürze man sich in seinem Umfeld auf jedes Gerücht, um das Neue abzuwehren, erzählte er neulich im Fernsehsender PBS. Philip Keiser, Chef des Gesundheitsamts in Galveston County, einem Landkreis an der texanischen Golfküste, erklärt das Zögern mit einer Art Abwartehaltung. In seinem Kreis, so Keiser, lehne es nur ein Viertel der Bewohner kategorisch ab, sich einen „Schuss in den Oberarm“geben zu lassen. Ein weiteres Viertel wolle erst einmal beobachten, wie es bereits Geimpften in Zukunft so ergehe. Diese Menschen zu überzeugen, bedeute ein hartes Stück Arbeit, sei aber möglich. Realistisch lasse sich, prophezeit der Arzt, eine Impfquote von ungefähr 75 Prozent erreichen.