Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Vor vier Jahren kollabierte Patrick Lukoschek beim Grevenbroicher City-Lauf. Kurze Zeit später starb er. Der junge Mann hätte gerettet werden können, meinen Experten. Seit 2019 beschäftigt der Fall das Landgericht. Doch das Verfahren zieht sich, weil ein
GREVENBROICH Der Fall Patrick Lukoschek ist mehr als die Geschichte eines tragischen Unglücks. Es ist die Geschichte einer Tragödie, die für seine Angehörigen kein Ende nimmt. Die eines Gerichtsverfahrens, das mehr als ein Jahr dahinplätschert, weil ein Sachverständiger seinem Gutachtenauftrag nicht nachkommt, nicht auf Anfragen reagiert, immer neue Fristen verstreichen lässt. Und es ist die Geschichte einer Behörde, die träge wirkt, wenn etwas schiefgeht.
Aber der Reihe nach. Alles beginnt am 23. Juni 2017, dem Tag des Grevenbroicher City-Laufs. Bei der Großveranstaltung im Stadtzentrum gehen damals rund 2200 Teilnehmer an den Start, darunter der 20-jährige Patrick Lukoschek. Der junge Mann ist trotz seines Handicaps, einer Entwicklungsverzögerung durch ein Dravet-Syndrom, ein sportlicher Typ, vielleicht etwas introvertierter als andere Männer in seinem Alter. Er spielt Fußball im Verein, ist ein großer Fan des FC Barcelona, geht schwimmen, und will beim City-Lauf die Fünf-Kilometer-Strecke bestreiten. So wie schon im Jahr davor.
Zuschauer feuern ihn und die anderen Läufer vom Straßenrand aus an, auch auf der Breite Straße. Mitten im Getummel stehen seine Eltern. Es ist etwa 19.45 Uhr, als sie beobachten, wie ihr Sohn Patrick 100 Meter vor dem Ziel plötzlich zu Boden sackt. Er wird von einer Betreuerin, die neben ihm läuft, aufgefangen, nach wenigen Metern stürzt er jedoch erneut – und bleibt liegen.
Schnell ist klar: Patrick Lukoschek erleidet einen epileptischen Anfall. Zum ersten Mal nach sieben anfallsfreien Jahren. Sofort eilen ihm seine Eltern zur Hilfe, auch eine Ärztin, die den Kollaps beobachtete. Patrick Lukoschek krampft. Nach wenigen Minuten ist ein Rettungswagen da, der City-Lauf wird unterbrochen. „Wir haben den Sanitätern zugerufen, dass er Epileptiker ist“, sagt Christian Lukoschek. Weder er als Vater, noch die Mutter dürfen in den Rettungswagen, auch nicht die Ärztin, die sich als solche zu erkennen gegeben haben soll. Der 20-Jährige wird im Rettungswagen versorgt, ein Notarzt ist unterwegs zur Einsatzstelle, rückt jedoch aus dem 15 Kilometer entfernten Bedburg an.
Die Sanitäter im Rettungswagen – so geht es aus zwei Gutachten hervor, die Vater Christian Lukoschek später in Auftrag gibt – verabreichen Patrick Lukoschek das richtige Medikament, um den Anfall zu durchbrechen. Allerdings ergreifen sie laut Gutachten nicht die richtigen Maßnahmen gegen die sich verschlechternde Sauerstoffsättigung ihres Patienten. „Wir wissen nicht, was im Rettungswagen geschehen ist“, sagt Christian Lukoschek, der sich bis heute nicht erklären kann, warum die Sanitäter damals 20 Minuten auf den Notarzt warten, anstatt das nur 600 Meter entfernte Elisabethkrankenhaus
anzusteuern. Das Vorgehen der Sanitäter soll nicht vollständig dokumentiert sein. „Patrick musste im Laufe des Einsatzes reanimiert werden“, sagt Lukoschek – ab wann genau ist jedoch unklar.
Der Notarzt aus Bedburg trifft nach etwa 20 Minuten an der Einsatzstelle ein, unter Reanimation des Patienten geht es schließlich ins nahe Elisabethkrankenhaus und von dort aus wenig später in die Uniklinik Düsseldorf. Patrick Lukoscheks Eltern fahren ebenfalls nach Düsseldorf und erfahren dort am späten Abend, dass ihr Sohn nicht überlebt hat. „Wir fragen uns, warum er nicht direkt ins Krankenhaus gekommen ist, und warum das alles so lang gedauert hat“, sagt Christian Lukoschek.
Weil die Todesursache zunächst unklar ist, wird die Kripo eingeschaltet. Es gibt ein Todesermittlungsverfahren, der Leichnam wird von einer Rechtsmedizinerin untersucht. Der junge Mann soll eine Hirnschwellung erlitten haben. Was jedoch ursächlich zu der Schwellung geführt hat, ist laut Lukoschek offen. Die Gutachter, die er nach Einstellung des Todesermittlungsverfahrens selbst mit der Untersuchung des Falls beauftragt, kommen zu dem Ergebnis, dass sein Sohn wahrscheinlich zu retten gewesen wäre, hätte man den Sauerstoffmangel früher erkannt. „Es ist nicht sicher feststellbar, ob das Vorgehen der Sanitäter richtig war“, sagt er.
Über den unter anderem auf Medizinrecht spezialisierten Anwalt Christian Koch reicht die Familie am 6. Juni 2019 eine Zivilklage beim Landgericht Mönchengladbach gegen den Rhein-Kreis Neuss als Träger des Rettungsdienstes ein. „Offenbar sind bei dem Einsatz Fehler passiert. Diese Fehler wollen wir aufzeigen, auch um andere Menschen zu schützen“, begründet Christian Lukoschek die Klage.
Der Rhein-Kreis Neuss bezieht keine Stellung zu den Maßnahmen, die zur Stabilisierung des Patienten eingeleitet wurden, auch nicht zu der Frage, warum die Sanitäter nicht das nahegelegene Elisabethkrankenhaus ansteuerten. Mit Verweis auf die zivilrechtliche Klage antwortet Sprecher Reinhold Jung auf Anfrage, dass sich der RheinKreis nicht vor Abschluss des Verfahrens dazu äußern werde.
Um den Fall bewerten zu können, bestellt das Landgericht Mönchengladbach nach Beschluss am 23. Januar 2020 einen unabhängigen Sachverständigen: Nach Vorschlägen der Ärztekammer Nordrhein beauftragt das Gericht den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst der Stadt Aachen, ein Gutachten in dem Verfahren zu erstellen. Das Gericht schickt die Verfahrensakte Anfang Februar 2020 an seine Adresse an der Uniklinik Aachen. Zustellnachweise belegen laut Gericht, dass die Post dort angekommen ist. Und dann passiert monatelang – nichts.
Im August 2020 lässt der beauftragte Sachverständige die erste Frist verstreichen. „Am 28. September 2020 droht das Gericht ein Ordnungsgeld an und setzt eine letzte Frist bis zum 30. Oktober. Auch diese Frist verstreicht, am 9. November fasst das Gericht einen Ordnungsgeldbeschluss“, zählt Rechtsanwalt Christian Koch einige Daten auf. Viele Wochen tut sich wieder nichts, der 1000 Euro schwere Ordnungsgeldbeschluss kann zu dieser Zeit nicht vollstreckt werden.
Dabei werden alle Schriftstücke ordnungsgemäß zugestellt, berichtet Raimond Röttger vom Landgericht Mönchengladbach. Auch wenn der Sachverständige den Zustellurkunden nach die Post nie persönlich entgegennimmt, geht das Gericht davon aus, dass er die Post erhält. Mathias Brandstädter, Sprecher der Uniklinik Aachen, erklärt auf Anfrage, dass Ärzte bei Abwesenheit durch Sekretariate auf entsprechende Post aufmerksam gemacht würden. Wie unsere Redaktion erfährt, leert der Sachverständige auch in der Corona-Zeit einmal pro Woche sein Postfach in der Uniklinik. Auch knapp ein Jahr nach der Beauftragung hat das Landgericht jedoch keinerlei
Rückmeldung erhalten. Keine Post, kein Telefonat. Auch Kontaktversuche von Rechtsanwalt Koch laufen ins Leere. Schließlich wird dem Sachverständigen der Gutachtenauftrag am 5. Januar 2021 durch das Landgericht entzogen.
Das Problem: Ein neuer Gutachter kann nicht ohne die Original-Verfahrensakte bestellt werden. Obwohl ihm das Gericht den Auftrag entzieht, schickt der Sachverständige die Akte über Monate hinweg nicht zurück. Damit kann das Verfahren nicht produktiv fortgeführt werden. Das Gericht setzt wiederum Fristen für die Rücksendung der Akte, die verstreichen. „Normalerweise arbeiten Sachverständige mit uns regelmäßig und gerne zusammen“, sagt Raimond Röttger vom Landgericht, der von einem außergewöhnlichen Fall spricht. Es sei unüblich, dass ein Sachverständiger nicht reagiere. Christian Koch wird deutlicher: In 25 Jahren Arbeit als Rechtsanwalt habe er so einen Fall noch nicht erlebt. Sein Mandant werde hängengelassen, er erwarte mehr Fingerspitzengefühl: Für Eltern gebe es nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren.
Das Gericht startet schließlich Vollstreckungsverfahren zur Beitreibung des Ordnungsgeldes und der Verfahrensakte. Raimond Röttger erklärt auf Anfrage, dass es „absolut
üblich“sei, Sachverständigen Originalakten zur Verfügung zu stellen. „Es gibt nur selten Probleme“, sagt er. Auch Rechtsanwälten würden zur Akteneinsicht die Originalunterlagen zur Verfügung gestellt. Erst seit September 2020 werden die Akten zu allen neu eingehenden Zivilsachen am Landgericht Mönchengladbach ausschließlich elektronisch geführt. Im Fall Lukoschek geht die Akte im Januar 2020 noch in Papierform heraus.
Etliche Versuche unserer Redaktion, den Sachverständigen in Aachen für eine Stellungnahme direkt zu kontaktieren, scheitern: Telefonisch ist er nicht zu erreichen, auf Mailbox-Nachrichten reagiert er nicht, und auch Fragen, die wir ihm per E-Mail schicken, bleiben unbeantwortet. Mehrere seiner Kollegen bestätigen, dass er im Dienst ist, in Aachen ist er außerdem Mitglied des Corona-Krisenstabs. Horst Schumacher, Sprecher der Ärztekammer Nordrhein, bestätigt, dass die Kammer den Sachverständigen „auch in letzter Zeit“benannt habe. Rückmeldungen darüber, wie er seine Aufträge ausführt, lägen nicht vor.
Vor wenigen Tagen berichtet Justus Waßenberg, Sprecher des Landgerichts, dass die Akte am 13. April eingegangen und freiwillig zurückgeschickt worden sei. Mit dabei: ein Gutachten, das vom 30. März 2021 datiert. Stefan Herrmann, Sprecher der Stadt Aachen, für die der Ärztliche Leiter Rettungsdienst tätig ist, antwortet am 22. April auf unsere zwischenzeitlich gestellten Nachfragen: „Die eingetretene Verzögerung ist nach dem uns vermittelten und nachvollziehbaren Sachstand der Pandemie und den damit verbundenen Erschwernissen geschuldet, die insbesondere einen ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes und Mitglied des Corona-Krisenstabs weit überdurchschnittlich beanspruchen. Dies hätte dem Gericht sicher frühzeitiger mitgeteilt werden können und sollen.“Nach Auskunft des Gerichts vom 30. April soll der Sachverständige nun auch das gegen ihn verhängte Ordnungsgeld bezahlt haben.
Die Pandemie als Entschuldigung? Rechtsanwalt Christian Koch hält es für „völlig inakzeptabel“, dass der Sachverständige auf keine Kontaktversuche reagiert hat. Trotz Corona laufe der Gerichtsbetrieb weiter. „Ich werde kein Gutachten von einem Sachverständigen akzeptieren, der dazu gezwungen wurde, es zu erstellen. Aber die Frage stellt sich gar nicht: Mit Beschluss vom 5. Januar wurde ihm der Gutachtenauftrag entschädigungslos entzogen. Der Beschluss ist rechtskräftig.“Die Verzögerung sei auch deshalb ärgerlich, weil die Kläger das Gutachten mit 2000 Euro vorab hätten bezahlen müssen.
Kochs Mandant Christian Lukoschek erklärt, dass er Verständnis für die Lage des Ärztlichen Leiters Rettungsdienst habe, in die er durch Corona gekommen ist. „Wenn aber ein Jahr keinerlei Reaktion erfolgt, weder eine Terminverschiebung, noch eine Absage, dafür habe ich kein Verständnis.“Wie es nun weitergeht, werden die Richter in Mönchengladbach entscheiden müssen. Lukoschek hofft, dass das Verfahren endlich weitergeht und ein Urteil fällt – auch, weil er fürchtet, dass die Erinnerungen aller Beteiligten verblassen. „Zumindest eine Verhandlung mit anschließender Urteilsverkündung hat unser Sohn verdient, wie auch immer der Fall ausgeht.“
„So etwas habe ich in 25 Jahren als Rechtsanwalt noch nicht erlebt“Christian Koch Fachanwalt für Medizinrecht