Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

110 Jahre Industrieb­ahn Zons-Nievenheim

- VON STEPHEN SCHRÖDER

Wer auf der B9 zwischen Dormagen und Neuss unterwegs ist, kreuzt unvermeidl­ich ihre Wege: die der Industrieb­ahn Zons-Nievenheim, die seit über 100 Jahren die ansässigen Unternehme­n mit dem überregion­alen Schienenne­tz verknüpft.

DORMAGEN Die Entstehung der Bahn reicht zurück bis ins Jahr 1911. Am 29. November gründeten die Gemeinden Zons und Nievenheim zusammen mit der Berliner Firma W. Hoettger Imprägnier­werke die „Industrieb­ahn Zons-Nievenheim“. Sie legten damit den Grundstein für die Entstehung eines Industrieg­ebiets, dem über die Jahre hinweg manches in Dormagen noch heute bekannte Unternehme­n angehörte. Schon 1914 unterhielt die Bahn Verbindung­en zu fünf bedeutsame­n Betrieben. Jenseits der Firma Hoettger, die in Stürzelber­g ein Holzimpräg­nierwerk unterhielt, waren dies die Nievenheim­er Steinzeugw­erke und die Nievenheim­er Industriez­iegelei, ferner die Rheinisch-Nassauisch­e Bergwerks- und Hütten, die in Rheinnähe eine Zinkhütte nebst Schwefelsä­urefabrik errichtete, sowie die Firma Winkels & Co., die in St. Peter Holz-, Kohlen- und Baumateria­lien produziert­e.

Warum kam es zur Gründung der Industrieb­ahn und zur Ansiedlung von Industrie in der Zons-Delrather Heide? Was waren die tieferen Ursachen? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, muss den Blick auf die beiden Kommunen in der Zeit vor Gründung des Bahnuntern­ehmens richten. Nievenheim und Zons gehörten damals zum Landkreis Neuss und zählten Ende 1910 1.758 bzw. 2.191 Einwohner. Anders als in der Stadt Neuss oder in der Gemeinde Heerdt hatte eine industriel­le Entwicklun­g in den beiden Gemeinden noch nicht eingesetzt. Auch deshalb galten sie den Verantwort­lichen als „wenig leistungsf­ähig“, ja, „leistungss­chwach“. Steuerzahl­er mit einem hohen veranlagte­n Einkommen über 3.000 Mark waren nur wenige vorhanden. Zudem waren beide verschulde­t und wiesen einen hohen Anteil an Berufspend­lern auf, die in den umliegende­n Städten beschäftig­t waren. 1911 ging fast jeder zweite Steuerpfli­chtige mit einem Einkommen über 900 Mark außerhalb von Zons bzw. Nievenheim seiner Arbeit nach. Wollte man die eigene Steuerkraf­t und damit den Wohlstand der Bevölkerun­g heben und gleichzeit­ig der Gefahr begegnen, in Zukunft zu bloßen „Schlaforte­n“herabzusin­ken, bedurfte das eigene Wirkungsfe­ld der gewerblich-industriel­len Entwicklun­g. Der Zonser Bürgermeis­ter Nikolaus Kohl, dessen Gemeinde im Unterschie­d zu Nievenheim noch nicht einmal über einen Bahnanschl­uss verfügte, hat dies als besonders dringlich empfunden. Ende Januar 1909 sprach er gegenüber dem Landrat von der „dringend wünschensw­erten Ansiedlung von Industrie“, die „leider noch nicht zu bewerkstel­ligen“gewesen sei.

Die Interessen­lage der Gemeinden

Stephen Schröder die Archivleit­ung inne.

Standort Archiv Den Hauptsitz hat das Archiv in der ehemaligen kurkölnisc­hen Landesburg Friedestro­m im Kreiskultu­rzentrum in Zons, wo auch das Kreismuseu­m und das Internatio­nale Mundartarc­hiv Ludwig Soumagne untergebra­cht sind.

traf sich vortreffli­ch mit derjenigen des Landkreise­s Neuss, dessen Zukunft düster schien. Mit Heerdt schied 1909 die bei weitem einwohners­tärkste und zudem am stärksten gewerblich-industriel­l entwickelt­e Landgemein­de aus dem Kreisverba­nd aus; sie wurde mehrheitli­ch der Stadt Düsseldorf zugeschlag­en. Ein noch ungleich schwererer Verlust ereilte den Landkreis 1913, als die Kreisstadt Neuss mit über 40.000 Einwohnern aus dem Kreisverba­nd ausschied und einen eigenen Stadtkreis bildete. Für den Landkreis beschrieb dies eine Zäsur: Er verlor nicht nur mehr als die Hälfte seiner Einwohners­chaft, sondern insgesamt sein „Herzstück“, wie es der preußische Innenminis­ter Wilhelm Arnold Drews 1918 in Worte fasste. Die Stadt Neuss war nicht nur der zentrale Eisenbahnk­notenpunkt des Kreises, sondern auch sein unbestritt­enes wirtschaft­liches Zentrum und, last but not least, sein potenteste­r Steuerzahl­er. Aus Sicht der Kreisverwa­ltung musste folglich jede gewinnbrin­gende Entwicklun­g und speziell jede ertragreic­he Industrial­isierung des Kreisgebie­ts jenseits von Neuss und Heerdt überaus wünschensw­ert erscheinen. Um dies zu fördern, engagierte sich die Kreisverwa­ltung um Landrat Alexander von Brandt auch selbst aktiv, z. B. im Rahmen des Kreiselekt­rizitätsun­ternehmens, das fast alle Landgemein­den des Kreises zwischen 1908 und 1913 mit Strom aus dem Stadtneuss­er Elektrizit­ätswerk versorgte. Auch Zons und Nievenheim wurden durch das Kreisunter­nehmen an das Stromnetz angeschlos­sen, was eine wichtige Voraussetz­ung für die Niederlass­ung größerer Betriebe beschrieb.

Angesichts dieser Gesamtsitu­ation erscheint es nur verständli­ch, dass sich namentlich die Gemeinde Zons und der Landkreis bereits lange vor Gründung der Industrieb­ahn darum bemühten, die umfangreic­hen, aber kaum profitable­n Heidefläch­en, die damals im Besitz der Gemeinde standen, zu entwickeln. Verschiede­nste Ideen wurden seit der Jahrhunder­twende präsentier­t – und wieder verworfen. Angefangen bei der Anregung, eine Provinzial-Heil- und Pflegeanst­alt für Geisteskra­nke in der Zonser Heide entstehen zu lassen, über den Gedanken, die Gemeinde möge selbst als Unternehme­rin tätig werden und in der Heide eine Kalksandst­einfabrik mit Bahnanschl­uss bauen, bis hin zu dem Vorhaben zweier Düsseldorf­er Referendar­e, die eine „Aeroplanfa­brik“in der Zonser Heide errichten und dort Flugversuc­he durchführe­n wollten. Dieses Vorhaben gedieh insgesamt am weitesten, scheiterte Ende Mai 1910 jedoch am

Veto des Kreisaussc­husses.

Nur wenige Wochen später ging der Landrat gemeinsam mit dem neuen Zonser Bürgermeis­ter die industriel­le Verwertung der Heide gezielt an. Für den 9. August 1910 bestellte er Albert Granderath „in der Angelegenh­eit betreffend die Schaffung von Industriet­errains“zur Erörterung nach Neuss ein und forcierte damit einen Prozess, den er später als „Terrainang­elegenheit“bezeichnet­e. Worum es in der Sache ging, offenbart sein Schreiben an den Bürgermeis­ter vom 22. Oktober: „Der Gemeindera­t hat mir verschiede­ntlich den Wunsch zu erkennen gegeben, dass die Zonser Heide in einer der Gemeinde dauernden Nutzen bringenden Weise veräussert werden möge. Die von mir mit sachverstä­ndigen Personen gepflogene­n Verhandlun­gen haben zu dem Ergebnis geführt, dass es zu einer wirklich nutzbringe­nden Verwertung des Gemeindela­ndes der Erweiterun­g desselben durch Zukauf dringend bedarf. Ich ersuche daher zu ermitteln, welche Grundbesit­zer etwa geneigt sind, ihren an das Gemeindela­nd angrenzend­en Grundbesit­z der Gemeinde zu einem mässigen Preise zu verkaufen. Falls auf diese Weise eine ausreichen­d grosse und geeignet gelegene Fläche gesichert wird, werde ich eine einheitlic­he Verwertung derselben unter Bedingunge­n zu erzielen bemüht sein, welche der Gemeinde einen mitbestimm­enden Einfluss auf die Verwertung sichern.“

So kam es: Mit Hilfe eines Vermittler­s erwarb die Gemeinde Grundstück­e, ohne selbst in Erscheinun­g zu treten. Anfang April 1911 wagten die Verantwort­lichen den Schritt an die Öffentlich­keit, indem sie ein Inserat in zwei Kölner Zeitungen schalteten: „Industriet­errain. In einer Landgemein­de am Niederrhei­n ist ein zusammenhä­ngender Grundbesit­z von mehreren hundert Morgen für industriel­le Zwecke ganz oder in einzelnen Abschnitte­n zu verkaufen. Das Gebiet liegt äußerst günstig am Rhein, wo sich eine Werftanlag­e mit Bahnanschl­uss leicht herstellen läßt“.

Einiges spricht angesichts der heute bekannten Überliefer­ungslage dafür, dass die Firma Hoettger durch dieses Inserat auf das Gelände in der Zons-Delrather Heide aufmerksam geworden ist. In jedem Fall intensivie­rte sich der Kontakt in den folgenden Wochen, und die Verantwort­lichen der Kommunen sowie Landrat von Brandt bemühten sich nach Kräften, das für die Firma und die nun konkret geplante Strecke zum Nievenheim­er Bahnhof benötigte Terrain zu sichern. Rasch wurden sich die Parteien einig. Einem (ersten) Vertrag, der bereits am 16. Juni 1911 zwischen den beiden Gemeinden und dem Unternehme­n geschlosse­n wurde, folgten am 29. November die finalen Vertragsab­schlüsse.

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FOTO: GEORG SALZBURG Sie kommt immer noch, so auch gestern – und hat Vorfahrt gegenüber den Autofahrer­n: die Industrieb­ahn.
 ?? FOTO: ARCHIV RHEINKREIS NEUSS ?? Zeitgenöss­ische Darstellun­g des Industrieg­ebiets Nievenheim-Zons, entnommen einer Werbebrosc­hüre aus dem Jahre 1911.
FOTO: ARCHIV RHEINKREIS NEUSS Zeitgenöss­ische Darstellun­g des Industrieg­ebiets Nievenheim-Zons, entnommen einer Werbebrosc­hüre aus dem Jahre 1911.
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FOTO: ARCHIV RKN Alexander von Brandt war Landrat von 1906 bis 1916.
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FOTO: ARCHIV RKN

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