Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
110 Jahre Industriebahn Zons-Nievenheim
Wer auf der B9 zwischen Dormagen und Neuss unterwegs ist, kreuzt unvermeidlich ihre Wege: die der Industriebahn Zons-Nievenheim, die seit über 100 Jahren die ansässigen Unternehmen mit dem überregionalen Schienennetz verknüpft.
DORMAGEN Die Entstehung der Bahn reicht zurück bis ins Jahr 1911. Am 29. November gründeten die Gemeinden Zons und Nievenheim zusammen mit der Berliner Firma W. Hoettger Imprägnierwerke die „Industriebahn Zons-Nievenheim“. Sie legten damit den Grundstein für die Entstehung eines Industriegebiets, dem über die Jahre hinweg manches in Dormagen noch heute bekannte Unternehmen angehörte. Schon 1914 unterhielt die Bahn Verbindungen zu fünf bedeutsamen Betrieben. Jenseits der Firma Hoettger, die in Stürzelberg ein Holzimprägnierwerk unterhielt, waren dies die Nievenheimer Steinzeugwerke und die Nievenheimer Industrieziegelei, ferner die Rheinisch-Nassauische Bergwerks- und Hütten, die in Rheinnähe eine Zinkhütte nebst Schwefelsäurefabrik errichtete, sowie die Firma Winkels & Co., die in St. Peter Holz-, Kohlen- und Baumaterialien produzierte.
Warum kam es zur Gründung der Industriebahn und zur Ansiedlung von Industrie in der Zons-Delrather Heide? Was waren die tieferen Ursachen? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, muss den Blick auf die beiden Kommunen in der Zeit vor Gründung des Bahnunternehmens richten. Nievenheim und Zons gehörten damals zum Landkreis Neuss und zählten Ende 1910 1.758 bzw. 2.191 Einwohner. Anders als in der Stadt Neuss oder in der Gemeinde Heerdt hatte eine industrielle Entwicklung in den beiden Gemeinden noch nicht eingesetzt. Auch deshalb galten sie den Verantwortlichen als „wenig leistungsfähig“, ja, „leistungsschwach“. Steuerzahler mit einem hohen veranlagten Einkommen über 3.000 Mark waren nur wenige vorhanden. Zudem waren beide verschuldet und wiesen einen hohen Anteil an Berufspendlern auf, die in den umliegenden Städten beschäftigt waren. 1911 ging fast jeder zweite Steuerpflichtige mit einem Einkommen über 900 Mark außerhalb von Zons bzw. Nievenheim seiner Arbeit nach. Wollte man die eigene Steuerkraft und damit den Wohlstand der Bevölkerung heben und gleichzeitig der Gefahr begegnen, in Zukunft zu bloßen „Schlaforten“herabzusinken, bedurfte das eigene Wirkungsfeld der gewerblich-industriellen Entwicklung. Der Zonser Bürgermeister Nikolaus Kohl, dessen Gemeinde im Unterschied zu Nievenheim noch nicht einmal über einen Bahnanschluss verfügte, hat dies als besonders dringlich empfunden. Ende Januar 1909 sprach er gegenüber dem Landrat von der „dringend wünschenswerten Ansiedlung von Industrie“, die „leider noch nicht zu bewerkstelligen“gewesen sei.
Die Interessenlage der Gemeinden
Stephen Schröder die Archivleitung inne.
Standort Archiv Den Hauptsitz hat das Archiv in der ehemaligen kurkölnischen Landesburg Friedestrom im Kreiskulturzentrum in Zons, wo auch das Kreismuseum und das Internationale Mundartarchiv Ludwig Soumagne untergebracht sind.
traf sich vortrefflich mit derjenigen des Landkreises Neuss, dessen Zukunft düster schien. Mit Heerdt schied 1909 die bei weitem einwohnerstärkste und zudem am stärksten gewerblich-industriell entwickelte Landgemeinde aus dem Kreisverband aus; sie wurde mehrheitlich der Stadt Düsseldorf zugeschlagen. Ein noch ungleich schwererer Verlust ereilte den Landkreis 1913, als die Kreisstadt Neuss mit über 40.000 Einwohnern aus dem Kreisverband ausschied und einen eigenen Stadtkreis bildete. Für den Landkreis beschrieb dies eine Zäsur: Er verlor nicht nur mehr als die Hälfte seiner Einwohnerschaft, sondern insgesamt sein „Herzstück“, wie es der preußische Innenminister Wilhelm Arnold Drews 1918 in Worte fasste. Die Stadt Neuss war nicht nur der zentrale Eisenbahnknotenpunkt des Kreises, sondern auch sein unbestrittenes wirtschaftliches Zentrum und, last but not least, sein potentester Steuerzahler. Aus Sicht der Kreisverwaltung musste folglich jede gewinnbringende Entwicklung und speziell jede ertragreiche Industrialisierung des Kreisgebiets jenseits von Neuss und Heerdt überaus wünschenswert erscheinen. Um dies zu fördern, engagierte sich die Kreisverwaltung um Landrat Alexander von Brandt auch selbst aktiv, z. B. im Rahmen des Kreiselektrizitätsunternehmens, das fast alle Landgemeinden des Kreises zwischen 1908 und 1913 mit Strom aus dem Stadtneusser Elektrizitätswerk versorgte. Auch Zons und Nievenheim wurden durch das Kreisunternehmen an das Stromnetz angeschlossen, was eine wichtige Voraussetzung für die Niederlassung größerer Betriebe beschrieb.
Angesichts dieser Gesamtsituation erscheint es nur verständlich, dass sich namentlich die Gemeinde Zons und der Landkreis bereits lange vor Gründung der Industriebahn darum bemühten, die umfangreichen, aber kaum profitablen Heideflächen, die damals im Besitz der Gemeinde standen, zu entwickeln. Verschiedenste Ideen wurden seit der Jahrhundertwende präsentiert – und wieder verworfen. Angefangen bei der Anregung, eine Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke in der Zonser Heide entstehen zu lassen, über den Gedanken, die Gemeinde möge selbst als Unternehmerin tätig werden und in der Heide eine Kalksandsteinfabrik mit Bahnanschluss bauen, bis hin zu dem Vorhaben zweier Düsseldorfer Referendare, die eine „Aeroplanfabrik“in der Zonser Heide errichten und dort Flugversuche durchführen wollten. Dieses Vorhaben gedieh insgesamt am weitesten, scheiterte Ende Mai 1910 jedoch am
Veto des Kreisausschusses.
Nur wenige Wochen später ging der Landrat gemeinsam mit dem neuen Zonser Bürgermeister die industrielle Verwertung der Heide gezielt an. Für den 9. August 1910 bestellte er Albert Granderath „in der Angelegenheit betreffend die Schaffung von Industrieterrains“zur Erörterung nach Neuss ein und forcierte damit einen Prozess, den er später als „Terrainangelegenheit“bezeichnete. Worum es in der Sache ging, offenbart sein Schreiben an den Bürgermeister vom 22. Oktober: „Der Gemeinderat hat mir verschiedentlich den Wunsch zu erkennen gegeben, dass die Zonser Heide in einer der Gemeinde dauernden Nutzen bringenden Weise veräussert werden möge. Die von mir mit sachverständigen Personen gepflogenen Verhandlungen haben zu dem Ergebnis geführt, dass es zu einer wirklich nutzbringenden Verwertung des Gemeindelandes der Erweiterung desselben durch Zukauf dringend bedarf. Ich ersuche daher zu ermitteln, welche Grundbesitzer etwa geneigt sind, ihren an das Gemeindeland angrenzenden Grundbesitz der Gemeinde zu einem mässigen Preise zu verkaufen. Falls auf diese Weise eine ausreichend grosse und geeignet gelegene Fläche gesichert wird, werde ich eine einheitliche Verwertung derselben unter Bedingungen zu erzielen bemüht sein, welche der Gemeinde einen mitbestimmenden Einfluss auf die Verwertung sichern.“
So kam es: Mit Hilfe eines Vermittlers erwarb die Gemeinde Grundstücke, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Anfang April 1911 wagten die Verantwortlichen den Schritt an die Öffentlichkeit, indem sie ein Inserat in zwei Kölner Zeitungen schalteten: „Industrieterrain. In einer Landgemeinde am Niederrhein ist ein zusammenhängender Grundbesitz von mehreren hundert Morgen für industrielle Zwecke ganz oder in einzelnen Abschnitten zu verkaufen. Das Gebiet liegt äußerst günstig am Rhein, wo sich eine Werftanlage mit Bahnanschluss leicht herstellen läßt“.
Einiges spricht angesichts der heute bekannten Überlieferungslage dafür, dass die Firma Hoettger durch dieses Inserat auf das Gelände in der Zons-Delrather Heide aufmerksam geworden ist. In jedem Fall intensivierte sich der Kontakt in den folgenden Wochen, und die Verantwortlichen der Kommunen sowie Landrat von Brandt bemühten sich nach Kräften, das für die Firma und die nun konkret geplante Strecke zum Nievenheimer Bahnhof benötigte Terrain zu sichern. Rasch wurden sich die Parteien einig. Einem (ersten) Vertrag, der bereits am 16. Juni 1911 zwischen den beiden Gemeinden und dem Unternehmen geschlossen wurde, folgten am 29. November die finalen Vertragsabschlüsse.