Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Zwischen Müdigkeit und Angst
Russland hat im Mai mit Luftangriffen verstärkt die ukrainische Hauptstadt ins Visier genommen. Die Schlaflosigkeit zehrt an den Kräften der Einwohner. Doch ihr Trotz bleibt.
KIEW (ap) Die Angriffe erfolgen nachts, heulende Sirenen reißen die Einwohner in Kiew aus dem Schlaf. In den vergangenen Wochen ist das immer häufiger vorgekommen – und so schickt die 65-jährige Olha Buchno jeden Abend ein Stoßgebet zum Himmel: „Bitte lass es ruhig bleiben.“Neben ihrem Bett hat sie eine Tasche stehen, gepackt mit dem Nötigsten – Dokumente, haltbares Essen und Wasser. Wenn die Sirenen losgehen, rennt sie die Treppe hinunter, um im Keller ihres Gebäudes im Stadtbezirk Darnyzja Schutz zu suchen. Vor fast zwei Wochen sind Trümmer einer abgeschossenen Rakete auf das Dach eines Nachbarhauses gefallen. „Jede Nacht haben wir Angst“, sagt die Ukrainerin, eine Reinigungskraft, unter Tränen.
Wenn die Sirenen zu heulen beginnen, sind manche der Einwohner in der Hauptstadt von schierer Angst gepackt. Sie stellen sich vor, was alles passieren könnte – vom Verlust ihres Zuhauses bis hin zum Tod. Andere üben sich in Gelassenheit, bleiben wach im Bett liegen, während der Lärm von Explosionen die Luft erfüllt. Nach 15 Monaten Krieg haben viele eine persönliche Routine entwickelt, wie sie mit der jüngsten Welle der russischen Luftangriffe umgehen. Aber eines haben die meisten Einwohner in Kiew gemeinsam: Sie klagen zunehmend über Schlaflosigkeit. „Jeder ist erschöpft“, sagt Oleksandr Tschublenko, ein Apotheker in Darnyzja.
So erlebte Kiew am frühen Montagmorgen den 15. nächtlichen Luftangriff im Mai. Die Russen setzten dabei eine Kombination von Drohnen und Marschflugkörpern ein, die ukrainische Luftverteidigung konnte mehr als 40 davon abschießen, wie der Leiter der Militärverwaltung von Kiew, Serhij Popko, auf Telegram mitteilte. Herabfallende Trümmer schlugen durch das Dach eines Wohngebäudes im Bezirk Podlisk, aber es gab keine unmittelbaren Berichte über Tote oder Verletzte. „Eine schwierige Nacht mehr für die Hauptstadt“, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. In der Nacht zu Sonntag war Kiew nach Angaben örtlicher Stellen dem bislang größten Drohnenangriff seit Beginn des Krieges Ende Februar 2022 ausgesetzt, und es gab mindestens ein Todesopfer.
Die Angriffswellen sind Teil einer neuen Luftkampagne, die darauf abzielt, die ukrainischen Fähigkeiten für eine Gegenoffensive zu schwächen, wie Experten sagen. Die Eskalation begann nach dem 19. April, just nachdem die Ukraine mitgeteilt hatte, dass sie Patriot-Abwehrraketen
amerikanischer Herstellung erhalten habe. Schon in den ersten Monaten dieses Jahres war es zu einer verstärkten Welle russischer Luftangriffe gekommen, die auf die Zerstörung wichtiger Infrastruktur abzielte. Aber die ukrainischen Kräfte sind im Vergleich zu damals effektiver darin geworden, russische Raketen abzuwehren – was viele auf die amerikanischen Systeme zurückführen. Explosionen, die nachts nun so oft in Kiew zu hören sind, rühren häufig daher, dass die Ukrainer eine anfliegende Rakete oder Drohne getroffen haben. Telegram ist die bevorzugte App, mit der sich die Menschen im Land gegenseitig über russische Luftangriffe auf dem Laufenden halten. So wird auch in Kiew das Heulen der Sirenen von einem ständigen Klingeln von Telegram begleitet – mit Updates wie „Es kommt wieder einer aus dem Osten“oder „Weitere vom Meer aus gestartet! Sucht Schutz!“
Pawlo Tscherwinskyj in Darnyzja sagt seiner vierjährigen Tochter, dass alles nur ein Spiel sei, wenn der Lärm nächtlicher Explosionen in der Ferne die Fenster ihrer Wohnung erschüttert. Jedes Mal, wenn ein Luftangriff erfolgt, trägt der Vater die Kleine in den Flur und wartet auf eine Entwarnung. Bei jedem Knall erzählt er ihr, dass „Putin wieder mal Radau macht“. Das sei besser als ihr zu erklären, was wirklich vor sich gehe, meint der 45-Jährige. Und es sei ja auch keine wirkliche Lüge: „Wir sind jede Nacht einem Spiel von russischem Roulette ausgesetzt.“
Marjana Jawolina war just am Tag des Luftangriffs in den Wohnkomplex in Darnyzja gezogen. Sie kehrte erst nach Mitternacht in ihr neues Domizil zurück. Die Sirenen heulten, aber sie hatte genug, lag auf dem Sofa, die erste Ruhepause nach einem erschöpfenden Umzugstag. Wiederholt hörte sie Explosionen in der Ferne, aber versuchte nach eigenen Angaben, „es nicht zu ernst zu nehmen. Wenn du dein Leben leben willst, kannst du dich nicht immer davon verzehren lassen.“
Tatsächlich gelang es ihr einzuschlafen, bis eine heftige Druckwelle ihre Wohnung erschütterte und Flammen aus dem Dach des Nachbargebäudes schlugen. Jawolina machte sofort ein Video und schickte es an einen Freund beim ukrainischen Militär. „Einfach nur Blumen“, antwortete er – eine örtliche Redewendung, die besagt, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können.