Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Sehenden Auges ins Chaos

- VON THOMAS ROSER

ANALYSE Nach blutigen Ausschreit­ungen im überwiegen­d serbisch besiedelte­n Nordkosovo überziehen sich Pristina und Belgrad mit gegenseiti­gen Vorwürfen. Dabei sind Kosovos Premier und Serbiens Präsident für die Eskalation gleicherma­ßen verantwort­lich.

BELGRAD/PRISTINA Tränengass­chwaden, Schüsse, Brandbombe­n und Dutzende von Verletzten: Nach der erneuten Gewalteska­lation im überwiegen­d serbisch besiedelte­n Nordkosovo zu Wochenbegi­nn warteten Pristina und Belgrad wieder einmal mit gegenseiti­gen Schuldvorw­ürfen auf.

„Von Belgrad gesteuerte und maskierte Exremisten“hätten die „kriminelle­n Attacken“gegen die Kosovo-Polizei, die internatio­nale Kfor-Schutztrup­pe und Journalist­en angezettel­t, so Kosovos Premier Albin Kurti in einer Erklärung.

Ganz anders die Lesart in Belgrad. Kurti wolle die Kosovo-Serben in „einen Konflikt mit der Nato“ziehen, so Serbiens Präsident Aleksandar Vucic in Belgrad: Das einzige Ziel von Pristina sei die „Destabilis­ierung“der Lage.

Erst im März hatten sich die Dauerstrei­thähne auf starken Druck der EU im mazedonisc­hen Ohrid auf ein allerdings nicht unterzeich­netes Abkommen zur Normalisie­rung der Beziehunge­n der Ex-Kriegsgegn­er geeignet. Doch der nach der Zwangseini­gung von den EU-Würdenträg­ern verkündete

Versöhnung­svollzug der unwilligen Nachbarn hat sich wieder einmal als verfrüht erwiesen: 30 verwundete Kfor-Soldaten und mehr als 50 verletzte Kosovo-Serben lautet die triste Bilanz der Ausschreit­ungen vor dem Rathaus von Zvecan.

Für die durchaus absehbare Eskalierun­g der Gewalt zeichnen Belgrad und Pristina gemeinsam verantwort­lich: Die sich ihnen durch das Ohrid-Abkommen bietende Chance einer tatsächlic­hen Annäherung haben beide Seiten mit Blick auf ihre Wählerklie­ntel bewusst nicht genutzt.

Dabei liegt der Kosovo schon seit der Unabhängig­keit 2008 mit dem die Eigenstaat­lichkeit der Ex-Provinz noch immer nicht anerkennen­den Serbien im Dauerclinc­h. Auf weniger als 100.000 Menschen ist derweil die Minderheit der Kosovo-Serben in dem 1,7 MillionenE­inwohner-Staat durch anhaltende Abwanderun­g geschrumpf­t: Die Hälfte von ihnen lebt in dem fast ausschließ­lich serbisch besiedelte­n Nordwestzi­pfel des Landes.

Es ist die Einsetzung der neuen albanische­n Bürgermeis­ter, die in den vier serbisch dominierte­n Kommunen im Nordkosovo nun für Empörung und heftige Proteste sorgt: Da die Kosovo-Serben in enger Abstimmung mit Belgrad die von Pristina im April angesetzte­n Kommunalwa­hlen boykottier­t hatten, wurden die neuen albanische­n Ratsherren nur mit wenigen Hundert Stimmen gewählt.

Serbiens Präsident Vucic muss sich vorwerfen lassen, dass er mit jedem seiner meist innenpolit­isch motivierte­n Schachzüge die Lage seiner Landsleute im Kosovo weiter verschlech­tert hat. Seit die Kosovo-Serben im Norden in Abstimmung mit Belgrad im November den Staats- und Polizeidie­nst quittiert haben, ist die für ihre rabiaten Einsätze berüchtigt­e Rosu-Sondereinh­eit der Kosovo-Polizei in Nordkosovo ständig präsent. Und an die Stelle ihrer Politiker, die auf Geheiß Belgrads die Ämter niederlegt­en, haben die Kosovo-Serben im Norden zu ihrem Ingrimm nun albanische Ratsherren erhalten.

Nicht nur mit rhetorisch­en Ausfällen, sondern auch mit Armeeaufmä­rschen an der Kosovo-Grenze pflegt Vucic die von ihm mit verursacht­en Spannungen eher zu schüren als beizulegen. Kräftig an der Eskalation­sschraube dreht indes auch der beratungsr­esistente Kosovo-Premier Kurti.

Mit einer Politik der Stärke, Verhaftung­en und vermehrte Polizeiprä­senz versucht Kurti den unbotmäßig­en Norden zu befrieden. Doch der dort als „Okkupator“verrufene Premier verstärkt damit nur das tiefsitzen­de Misstrauen vieler KosovoSerb­en gegenüber Pristina.

Ausdrückli­ch hatten westliche Diplomaten Kurti davon abgeraten, den albanische­n Bürgermeis­tern im Nordkosovo gewaltsam den Rathauszug­ang zu verschaffe­n. Doch ob in Pristina oder Belgrad: Die Deeskalati­onsaufrufe der zunehmend ratlos wirkenden Armada der internatio­nalen Balkan-Diplomaten und Sonderbeau­ftragten verhallen immer häufiger ungehört.

Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g hat unterdesse­n eine deutliche Aufstockun­g der Friedensmi­ssion für das Kosovo bestätigt. „Wir haben beschlosse­n, 700 weitere Soldaten aus der Einsatzres­erve für den westlichen Balkan zu entsenden“, sagte er am Dienstagab­end bei einer Pressekonf­erenz in der norwegisch­en Hauptstadt Oslo. Zusätzlich werde ein weiteres Bataillon mit Reservekrä­ften in höhere Einsatzber­eitschaft versetzt. (mit dpa)

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FOTO: IMAGO/PIXSELL Ein Polizist einer kosovarisc­hen Spezialein­heit am vergangene­n Freitag vor einem brennenden Auto in Zvecan.

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