Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Borussia darf keine graue Maus sein
ANALYSE Die Gladbacher haben im Laufe der Saison ihre Ziele nach unten korrigiert. Der Verein sollte aber mit einem anderen Selbstbewusstsein unterwegs sein. Nach zwei Jahren der Stagnation muss das Streben nach Mehr wieder das Ziel sein.
MÖNCHENGLADBACH Jonas Hofmann ließ Interpretationsspielraum, was Borussias Ausrichtung für die nähere Zukunft angeht. Der Nationalspieler sprach nach dem 2:0 gegen den FC Augsburg zum Saisonabschluss von Realismus, davon, dass man die Ansprüche zurückschrauben müsse nach zwei Jahren im Niemandsland der Bundesliga. Er sagte aber auch, nicht nur, was seine persönliche Bilanz angeht: „Man strebt immer nach mehr.“Genau das muss für Gladbach das Motto sein nach zwei Spielzeiten der Stagnation auf Rang zehn.
Die Abschluss-Analyse von Daniel Farke vor dem Augsburg-Spiel machte den Eindruck, dass die Gladbacher froh sein dürften, nicht konkret in den Abstiegskampf abgerutscht zu sein und wie vergangene Saison, das hatte der Trainer über die Saison hinweg immer wieder angemerkt, bis zum Schluss zittern zu müssen. Dabei hatte sich Borussia auch da Anfang April aller Sorgen entledigt. In beiden Jahren war am Ende der erste Europa-Platz, Rang sieben, sieben Punkte weg. Keine utopische Distanz ist das.
Ex-Kapitän Martin Stranzl hat vor gut zehn Jahren die 50-Punkte-Marke als Ziel genannt, das sind 25 pro Halbserie – eine machbare Zielsetzung auch jetzt. Daraus ergibt sich das eigentliche Ziel dieser Saison, das durchaus in den Jahren zuvor übliche war: Einstelligkeit inklusive der Anrainerschaft zu Europa. „Die Einstelligkeit ist realistisch“, sagte Manager Roland Virkus am 25. Juni 2022 im Interview mit unserer Redaktion. Kapitän Lars Stindl und Hofmann hatten deutlich das Ziel Europa im Blick. „Grundsätzlich haben wir alle den Wunsch, wieder europäisch zu spielen. Bekommen wir Konstanz in unsere Ergebnisse, ist es dieses Jahr auch möglich, nach Europa zu kommen“, sagte Stindl noch Anfang 2023.
Hofmann hatte vor der Saison vom Ziel „55 Punkte plus“gesprochen. Das bestätigte er nach der WM-Pause. „Auf jeden Fall bleibe ich dabei, das ist absolut möglich. Der Anspruch eines jeden sollte es sein, in diese Tabellenregion zu kommen. Wenn ich von 55 Punkten aufwärts rede, bedingt es das automatisch. Deshalb sollten wir uns als Mannschaft auf jeden Fall darum kümmern, zumindest unter die ersten Sieben zu kommen “, sagt er unserer Redaktion vor dem ersten Spiel des Jahres gegen Bayer Leverkusen. Es gab ein 2:3, danach ging das Spiel in Augsburg verloren – und die Europa-Hoffnungen wurden abgehakt, die Ziele nach unten korrigiert.
„In so einer Situation müssen wir gar nicht über die Top Sechs sprechen, da sind Champions und Europa League komplett unrealistisch. Für uns geht es darum, eine stabile Runde zu spielen und solide im zweiten Tabellendrittel zu stehen. Das heißt: zwischen Platz sieben und Platz zwölf“, sagte Farke am 16. Februar 2023. Und: „Graue Maus finde ich ehrlich gesagt im Moment gar nicht so schlecht.“Das zur „grauen Maus“passende „Niemandsland“,
in dem Christoph Kramer Borussia vor dem Spiel gegen RB Leipzig verortete, ist erstens das Ergebnis und zweitens, als Ziel formuliert, der Reflex auf die Saison und ihren Verlauf, aber keineswegs der öffentlich kommunizierte Ausgangspunkt. Also: Wohin soll es gehen, Borussia? Farke deutete indes auch an, dass Mittelmaß nicht dauerhaft das Ziel sein kann. Und das darf es auch nicht sein. Niemand erwartet von Borussia die Champions League, niemand zwangsläufig Europa. Doch das Mitspielen um die internationalen Plätze sollte das erklärte Ziel sein.
Finanzchef Stephan Schippers hat im Rahmen der Mitgliederversammlung Platz zehn als „Rückfallebene“definiert, als Grenze nach unten selbst unter komplizierten Umständen. Dabei sollte es bleiben, und daran sollte sich der Umbruch ausrichten. Schippers hat vorgegeben, was für Gladbach möglich sein sollte: zurück in die Einstelligkeit und da sein, wenn vorne einer schwächelt. Im Grunde ist es das, woher Borussia kommt, das, was sie sich erarbeitet hat. Daran sind das Team und der Klub gewachsen.
Das Problem ist, dass Klubs wie künftig Union Berlin oder in dieser Saison Eintracht Frankfurt durch die Champions-League-Teilnahmen wirtschaftlich in neue Regionen der Möglichkeiten vorstoßen, Borussia muss aufpassen, dass sie nicht zu sehr enteilen. Beide Klubs zeigen indes auch auf dem Weg in die Königsklasse, dass Erfolg nicht nur eine Frage der teuren Einkäufe ist, sondern eines klaren und stringent umgesetzten Konzepts.
Welche Wucht Borussia als Klub hat, hat Lars Stindls Abschied mit all den Emotionen im Stadion gezeigt. Und diese Wucht muss wieder in Energie münden – und in das Selbstbewusstsein, unbedingt wieder mehr zu sein als eine „graue Maus“. Denn das Image steht Borussia überhaupt nicht. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.