Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Todestransporte aus Heilanstalten
Psychisch Kranke passten nicht in das ideologische Weltbild der Nationalsozialisten. Dass ihnen auch kirchliche Einrichtungen wie die Heilanstalten der Neusser Augustinerinnen und der Alexianerbrüder keinen Schutz bieten konnten, ist belegt. Nun gibt ein Gedenkstein in Thüringen den Anstoß dazu, sich mit den Umständen zu befassen.
NEUSS Im thüringischen Eichsfeld starben im letzten Kriegswinter 20 kranke Frauen aus Neuss, die im November 1944 aus dem zerbombten St.-Josef-Krankenhaus evakuiert und in das Franziskanerkloster in Dingelstädt gebracht worden waren. Ein Gedenkstein erinnert an die Frauen, deren genaues Schicksal kaum noch zu klären ist. Fragen zu diesem Monument führten Dingelstädts Ortschronisten Ewald Holbein und den Uedesheimer Historiker Jürgen Brautmeier zusammen, der diesem Hinweis nachging. „Der Gedenkstein“, so der Dozent der Universität Düsseldorf, „wirft ein Schlaglicht auf ein vergessenes und vielleicht auch verdrängtes Kapitel in der Neusser Geschichte.“
Welche Rolle die Heil- und Pflegeanstalten der Neusser Augustinerinnen und der Alexianerbrüder in der Zeit des Nationalsozialismus und besonders in den Euthanasieprogrammen der damaligen Machthaber gespielt haben, wurde noch nicht im Detail erforscht. Ein Grund ist, dass die Archive des heutigen St.-Alexius-/St.-Josefkrankenhauses noch nicht ausgewertet werden konnten. Eine tragische Rolle spielten sie allemal.
„Die Schwestern sollten Platz für Verwundete schaffen und mussten Gruppen von Patienten zur Verlegung zusammenstellen – an Orte, an denen sie nie angekommen sind“, berichtete Schwester Celina, Generaloberin der Augustinerinnen, schon vor zwei Jahren am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus Ende Januar. Auch in diesem Jahr wurden an diesem Tag am ehemaligen St.-Josefkrankenhaus, heute Standort des Zentrums für seelische Gesundheit der St.-Augustinus-Gruppe, weiße Rosen niedergelegt.
Erst durften die Ordensfrauen über die Vorgänge in der Klinik nicht sprechen, und nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele ihre Erschütterung nicht in Worte fassen können, sagt die Generaloberin. Denn sie wussten, was den Menschen drohte, die sie aus ihrer Obhut entlassen mussten – und konnten doch kaum etwas dagegen tun.
Kirchen und kirchliche Einrichtungen sahen sich Schikanen, Beschränkungen
und Zwangsmaßnahmen durch staatliche Stellen ausgesetzt, hält Brautmeier fest. „Gegen gesetzliche Maßnahmen konnten sie sich erst recht nicht wehren.“Das galt im übrigen auch für die Alexianerbrüder und ihre „Heil- und Pflegeanstalt für gemütsund nervenkranke Herren“.
Patienten in Anstalten privater Trägerschaft, die eingebunden waren in ein Gesamtsystem der psychiatrischen Anstalten, waren also vor den Maßnahmen der Euthanasiepolitik nicht geschützt. Sicher habe es Versuche solcher Einrichtungen gegeben, sich im Sinne der Patienten Anordnungen zu entziehen, sagt Brautmeier. „Doch eine angemessene Bewertung des individuellen Verhaltens des Personals setzt eine Quellenlage voraus, die in den seltensten Fällen vorhanden ist.“
Wegen der Quellenlage ist aus Brautmeiers Kenntnis auch nicht zu klären, ob in Neuss psychisch Kranke zwangssterilisiert – was 1934 staatlich angeordnet wurde – oder gar vorsätzlich getötet wurden.
Es gebe aber einen Fall, der das zu belegen scheint, sagt er mit Blick auf das Schicksal der 1943 getöteten Annemarie Siegfried, an die die Stadt Potsdam bis heute erinnert. Anhaltspunkte darauf habe er aber auch in den offiziellen Neusser Sterberegistern gefunden, sagt er.
Mit dem Krieg begann die Zeit massiver Verlegungen und Evakuierungen von Patienten – „was für die Betroffenen oftmals tödliche Folgen hatte“, so Brautmeier. Aus psychiatrischen Anstalten wurden Reservekrankenhäuser und, so der Historiker, „das Freiräumen von Krankenhausbetten zulasten von psychisch Kranken systematisch geplant“.
Oft führte der Weg dieser Menschen über so genannte Zwischenanstalten wie in Düsseldorf-Grafenberg – eingerichtet, um den Verbleib der Patienten zu verschleiern – in die Tötungsanstalt Hadamar in Hessen. Dort endete auch der Lebensweg von nachweislich vier jüdischen Frauen und zwei jüdischen Männern, die zwischen dem 11.
Die Einrichtungen Die Augustinerinnen erwarben 1858 das so genannte „Gütchen“und errichteten auf dem Gelände eine, wie es in einem Verzeichnis der „Heil- und Pflegeanstalt für Psychisch-Kranke“aus dem Jahr 1937 hieß, „Private Heilund Heimstätte für weibliche Nervenkranke und seelisch Leidende“. Die Alexianerbrüder bauten ab 1869 ihrerseits ein neues Krankenhaus,
und 13. Februar 1941 auf staatliche Anordnung aus den Neusser Krankenanstalten abtransportiert und in Hadamar vergast wurden.
Mit Verschärfung des Bombenkrieges stieg ab 1942 auch die Zahl der Transporte. Einer, bei dem alleine 350 Patienten das Krankenhaus der Alexianer unter Zwang verlassen mussten, ist für den Mai 1943 belegt. Im gleichen Monat wurden 90 Patientinnen aus dem St.-JosefKrankenhaus entfernt, im August noch einmal 75 „Geisteskranke“. Es gab aber auch Zuweisungen – zum Beispiel aus einem Altenheim der Augustinerinnen aus Wuppertal, nachdem dort das Elisabethkloster zerbombt worden war.
Als am 25. und 29. November 1944 das Klostergebäude durch Bomben massiv beschädigt wurde, war damit Schuss. Das St.-Josef-Krankenhaus wurde vollständig geräumt. 130 Kranke kamen bei den Alexianern unter, 35 Alte und Kranke in Remscheid, 87 im Sudentenland und 53 Frauen im Alter zwischen 66 und 91 Jahren eben in Dingelstädt. das in dem Verzeichnis von 1937 als Alexianer Heil- und Pflegeanstalt für gemüts- und nervenkranke Herren, einschließlich Alkoholiker und Morphinisten“firmierte.
Die Kapazitäten Das St.-JosefKrankenhaus hatte vor dem Krieg 460 Betten, Ende 1943 waren für „Geisteskranke“nur noch 100 Plätze vorgesehen. Bei den Alexianern standen von ursprünglich 800 Betten nur noch 250 für die Menschen zur Verfügung, für die das Krankenhaus gebaut worden war.
In einem Kloster, das nicht nur als Krankenhaus ungeeignet, sondern offenbar so unwirtlich war, dass 100 zeitgleich dort einquartierte Luftwaffenhelferinnen den Ort schnellstens wieder verließen.
Was aus den kranken Frauen aus diesen drei Transporten wurde, war auf Basis der bisherigen Quellenlage nicht zu klären. Für Dingelstädt gebe es allerdings erste Hinweise auf das Schicksal der Frauen, denn 20 von ihnen starben dort. Das Sterberegister dieser Stadt verzeichnet als Todesursache Altersschwäche oder Lungenentzündung. Die Überlebenden kamen am 16. August 1945 zurück nach Neuss.
Ob die Frauen nach Dingelstädt gebracht wurden, weil die Neusser Augustinerinnen hofften, dass das Kloster einen besseren Schutz vor den staatlichen Vernichtungsaktionen bot, ist eine Frage, die Brautmeier nicht ausschließt, aber vorerst offenlassen muss. Vielleicht weiß er im Herbst, wenn er einen für das Jahrbuch „Novaesium“geplanten Aufsatz schreibt, schon mehr.