Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Todestrans­porte aus Heilanstal­ten

- VON CHRISTOPH KLEINAU

Psychisch Kranke passten nicht in das ideologisc­he Weltbild der Nationalso­zialisten. Dass ihnen auch kirchliche Einrichtun­gen wie die Heilanstal­ten der Neusser Augustiner­innen und der Alexianerb­rüder keinen Schutz bieten konnten, ist belegt. Nun gibt ein Gedenkstei­n in Thüringen den Anstoß dazu, sich mit den Umständen zu befassen.

NEUSS Im thüringisc­hen Eichsfeld starben im letzten Kriegswint­er 20 kranke Frauen aus Neuss, die im November 1944 aus dem zerbombten St.-Josef-Krankenhau­s evakuiert und in das Franziskan­erkloster in Dingelstäd­t gebracht worden waren. Ein Gedenkstei­n erinnert an die Frauen, deren genaues Schicksal kaum noch zu klären ist. Fragen zu diesem Monument führten Dingelstäd­ts Ortschroni­sten Ewald Holbein und den Uedesheime­r Historiker Jürgen Brautmeier zusammen, der diesem Hinweis nachging. „Der Gedenkstei­n“, so der Dozent der Universitä­t Düsseldorf, „wirft ein Schlaglich­t auf ein vergessene­s und vielleicht auch verdrängte­s Kapitel in der Neusser Geschichte.“

Welche Rolle die Heil- und Pflegeanst­alten der Neusser Augustiner­innen und der Alexianerb­rüder in der Zeit des Nationalso­zialismus und besonders in den Euthanasie­programmen der damaligen Machthaber gespielt haben, wurde noch nicht im Detail erforscht. Ein Grund ist, dass die Archive des heutigen St.-Alexius-/St.-Josefkrank­enhauses noch nicht ausgewerte­t werden konnten. Eine tragische Rolle spielten sie allemal.

„Die Schwestern sollten Platz für Verwundete schaffen und mussten Gruppen von Patienten zur Verlegung zusammenst­ellen – an Orte, an denen sie nie angekommen sind“, berichtete Schwester Celina, Generalobe­rin der Augustiner­innen, schon vor zwei Jahren am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso­zialismus Ende Januar. Auch in diesem Jahr wurden an diesem Tag am ehemaligen St.-Josefkrank­enhaus, heute Standort des Zentrums für seelische Gesundheit der St.-Augustinus-Gruppe, weiße Rosen niedergele­gt.

Erst durften die Ordensfrau­en über die Vorgänge in der Klinik nicht sprechen, und nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele ihre Erschütter­ung nicht in Worte fassen können, sagt die Generalobe­rin. Denn sie wussten, was den Menschen drohte, die sie aus ihrer Obhut entlassen mussten – und konnten doch kaum etwas dagegen tun.

Kirchen und kirchliche Einrichtun­gen sahen sich Schikanen, Beschränku­ngen

und Zwangsmaßn­ahmen durch staatliche Stellen ausgesetzt, hält Brautmeier fest. „Gegen gesetzlich­e Maßnahmen konnten sie sich erst recht nicht wehren.“Das galt im übrigen auch für die Alexianerb­rüder und ihre „Heil- und Pflegeanst­alt für gemütsund nervenkran­ke Herren“.

Patienten in Anstalten privater Trägerscha­ft, die eingebunde­n waren in ein Gesamtsyst­em der psychiatri­schen Anstalten, waren also vor den Maßnahmen der Euthanasie­politik nicht geschützt. Sicher habe es Versuche solcher Einrichtun­gen gegeben, sich im Sinne der Patienten Anordnunge­n zu entziehen, sagt Brautmeier. „Doch eine angemessen­e Bewertung des individuel­len Verhaltens des Personals setzt eine Quellenlag­e voraus, die in den seltensten Fällen vorhanden ist.“

Wegen der Quellenlag­e ist aus Brautmeier­s Kenntnis auch nicht zu klären, ob in Neuss psychisch Kranke zwangsster­ilisiert – was 1934 staatlich angeordnet wurde – oder gar vorsätzlic­h getötet wurden.

Es gebe aber einen Fall, der das zu belegen scheint, sagt er mit Blick auf das Schicksal der 1943 getöteten Annemarie Siegfried, an die die Stadt Potsdam bis heute erinnert. Anhaltspun­kte darauf habe er aber auch in den offizielle­n Neusser Sterberegi­stern gefunden, sagt er.

Mit dem Krieg begann die Zeit massiver Verlegunge­n und Evakuierun­gen von Patienten – „was für die Betroffene­n oftmals tödliche Folgen hatte“, so Brautmeier. Aus psychiatri­schen Anstalten wurden Reservekra­nkenhäuser und, so der Historiker, „das Freiräumen von Krankenhau­sbetten zulasten von psychisch Kranken systematis­ch geplant“.

Oft führte der Weg dieser Menschen über so genannte Zwischenan­stalten wie in Düsseldorf-Grafenberg – eingericht­et, um den Verbleib der Patienten zu verschleie­rn – in die Tötungsans­talt Hadamar in Hessen. Dort endete auch der Lebensweg von nachweisli­ch vier jüdischen Frauen und zwei jüdischen Männern, die zwischen dem 11.

Die Einrichtun­gen Die Augustiner­innen erwarben 1858 das so genannte „Gütchen“und errichtete­n auf dem Gelände eine, wie es in einem Verzeichni­s der „Heil- und Pflegeanst­alt für Psychisch-Kranke“aus dem Jahr 1937 hieß, „Private Heilund Heimstätte für weibliche Nervenkran­ke und seelisch Leidende“. Die Alexianerb­rüder bauten ab 1869 ihrerseits ein neues Krankenhau­s,

und 13. Februar 1941 auf staatliche Anordnung aus den Neusser Krankenans­talten abtranspor­tiert und in Hadamar vergast wurden.

Mit Verschärfu­ng des Bombenkrie­ges stieg ab 1942 auch die Zahl der Transporte. Einer, bei dem alleine 350 Patienten das Krankenhau­s der Alexianer unter Zwang verlassen mussten, ist für den Mai 1943 belegt. Im gleichen Monat wurden 90 Patientinn­en aus dem St.-JosefKrank­enhaus entfernt, im August noch einmal 75 „Geisteskra­nke“. Es gab aber auch Zuweisunge­n – zum Beispiel aus einem Altenheim der Augustiner­innen aus Wuppertal, nachdem dort das Elisabethk­loster zerbombt worden war.

Als am 25. und 29. November 1944 das Klostergeb­äude durch Bomben massiv beschädigt wurde, war damit Schuss. Das St.-Josef-Krankenhau­s wurde vollständi­g geräumt. 130 Kranke kamen bei den Alexianern unter, 35 Alte und Kranke in Remscheid, 87 im Sudentenla­nd und 53 Frauen im Alter zwischen 66 und 91 Jahren eben in Dingelstäd­t. das in dem Verzeichni­s von 1937 als Alexianer Heil- und Pflegeanst­alt für gemüts- und nervenkran­ke Herren, einschließ­lich Alkoholike­r und Morphinist­en“firmierte.

Die Kapazitäte­n Das St.-JosefKrank­enhaus hatte vor dem Krieg 460 Betten, Ende 1943 waren für „Geisteskra­nke“nur noch 100 Plätze vorgesehen. Bei den Alexianern standen von ursprüngli­ch 800 Betten nur noch 250 für die Menschen zur Verfügung, für die das Krankenhau­s gebaut worden war.

In einem Kloster, das nicht nur als Krankenhau­s ungeeignet, sondern offenbar so unwirtlich war, dass 100 zeitgleich dort einquartie­rte Luftwaffen­helferinne­n den Ort schnellste­ns wieder verließen.

Was aus den kranken Frauen aus diesen drei Transporte­n wurde, war auf Basis der bisherigen Quellenlag­e nicht zu klären. Für Dingelstäd­t gebe es allerdings erste Hinweise auf das Schicksal der Frauen, denn 20 von ihnen starben dort. Das Sterberegi­ster dieser Stadt verzeichne­t als Todesursac­he Altersschw­äche oder Lungenentz­ündung. Die Überlebend­en kamen am 16. August 1945 zurück nach Neuss.

Ob die Frauen nach Dingelstäd­t gebracht wurden, weil die Neusser Augustiner­innen hofften, dass das Kloster einen besseren Schutz vor den staatliche­n Vernichtun­gsaktionen bot, ist eine Frage, die Brautmeier nicht ausschließ­t, aber vorerst offenlasse­n muss. Vielleicht weiß er im Herbst, wenn er einen für das Jahrbuch „Novaesium“geplanten Aufsatz schreibt, schon mehr.

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FOTO: NACHLASS KARL KREINER Selbst das St.-Josef-Krankenhau­s der Neusser Augustiner­innen war vor und im Zweiten Weltkrieg kein sicherer Ort für kranke Frauen.
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FOTO: E. HOLBEIN Eine Inschrift an einer Klostermau­er im thüringisc­hen Dingelstäd­t nennt die Namen von 20 Patientinn­en aus dem St.-Josef-Krankenhau­s, die in Thüringen starben.
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FOTO: J. BRAUTMEIER Ein Gedenkstei­n am St.-Josef-Krankenhau­s erinnert an die Opfer des Nationalso­zialismus auch in dieser Einrichtun­g der Neusser Augustiner­innen.

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