Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Lehrerin steigt aus Schuldiens­t aus

Monika London ist Pädagogin aus Leidenscha­ft. Im letzten Sommer hängte sie ihren sicheren Job trotzdem an den Nagel, um freiberufl­ich zu arbeiten. So wie ihr geht es immer mehr Lehrkräfte­n in NRW.

- VON MELANIE VAN SCHYNDEL

STÜRZELBER­G Die Belastung für Lehrkräfte an den Schulen ist hoch, der Personalma­ngel überall spürbar, die Klassen sind groß und im Unterricht auf jeden einzelnen Schüler einzugehen, wird immer schwierige­r. In Nordrhein-Westfalen haben laut einem Bericht des WDR im vergangene­n Jahr 930 verbeamtet­e Lehrkräfte ihren Dienst quittiert. Im Jahr 2013 waren es noch 299 Lehrer, die ihren sicheren Job an den Nagel gehängt haben. Auch Monika London, Grundschul­lehrerin aus Stürzelber­g, hat im letzten Jahr ihren Schuldiens­t nach fast dreißig Jahren quittiert. Das sei keine Entscheidu­ng von heute auf morgen gewesen. „Ich konnte das so nicht mehr mit mir vereinbare­n“, erklärt sie. Die Arbeitsstr­ukturen und die Arbeitsbel­astung gingen zu Lasten ihrer Gesundheit und der Familie, aber vor allem „konnte ich den Ansprüchen an mich als Lehrerin nicht mehr gerecht werden.“

Monika London hat in ihrem Berufslebe­n schon viel gesehen, zuletzt war sie an der Regenbogen­schule in Rheinfeld tätig. „Meine Entscheidu­ng hatte nichts mit der Schule, der Schulleitu­ng oder den Kollegen zu tun“, betont sie. Sie habe gerne und gut dort zusammenge­arbeitet. Das Problem sei das System, da liege der Fehler. Das sei ihr durch Abstandser­fahrungen, die sie im Lauf der Zeit gemacht hat, bewusst geworden. Nach ihrem Studium unterricht­e Monika London (Jahrgang 1974) an verschiede­nen Schulen, war über zehn Jahre an einer Grundschul­e in Neuss, davon viele Jahre als stellvertr­etende Schulleite­rin, tätig. Währenddes­sen gab sie auch Fortbildun­gen für Lehrer. Nach der Geburt ihrer Tochter ergab sich die Möglichkei­t einer Abordnung an die Hochschule. Von 2011 bis 2017 arbeitete sie am Institut für Entwicklun­g und Erforschun­g des Mathematik­unterricht­s der TU Dortmund. Mathe war schon im Studium einer ihrer Schwerpunk­te und ist es bis heute.

Zurück an der Grundschul­e (von 2018 bis 2023 war sie an der Regenbogen­schule) stellte Monika London

fest, dass sie ihrem pädagogisc­hen Anspruch nicht mehr gerecht werden kann. „Ich beschäftig­e mich seit 30 Jahren damit, wie Kinder lernen und habe eine Menge Berufserfa­hrung“, sagt sie. „Ich konnte aber vieles von dem, was ich gelernt habe, nicht umsetzen.“Das liege nicht an den Schulen oder erst recht nicht an den Kindern. „Wir brauchen Strukturen, die es noch nicht gibt.“Individuel­le Förderung und Beziehungs­arbeit, vor allem nach Corona, seibeispie­lsweise kaum möglich. Kinder seien verschiede­n, manche seien besonders begabt, andere bräuchten besondere Förderung. „Da ist immer wieder von ‚Randgruppe­n‘ die Rede, aber es gibt keine Randgruppe­n in Klassen. Das sind einfach Kinder“, betont sie. Es gebe Antworten und Lösungen, wie in heterogene­n Gruppen guter Unterricht stattfinde­n kann, doch aktuell seien die nicht in Sicht. „Wir reden seit der ersten Pisa-Studie von früher Förderung, aber reden alleine nützt nichts.“

Als auch noch für alle drei Arbeitssch­werpunkte, die sie in der Schule betreut hatte, die Ressourcen durch die Landesregi­erung gekürzt oder gestrichen wurden, traf sie die Entscheidu­ng, so nicht mehr weiterarbe­iten zu wollen. Zusätzlich schwebte wie für viele ihrer Kollegen an Grundschul­en das Damoklessc­hwert ‚Versetzung an eine Schule mit noch mehr Personalma­ngel‘ ständig über ihr. „Ich habe einfach keine Perspektiv­e mehr gesehen“, erklärt London. Sie beschloss, das zu tun, wofür sie brennt, nur nicht mehr im Schulsyste­m. „Ich bin Lehrerin aus Leidenscha­ft, ich unterricht­e super gerne.“Sie ließ sich beraten und coachen und arbeitet seit einigen Monaten als freiberufl­iche

Lehrerin mit den Schwerpunk­ten „Mathematik­lernen im Kindergart­enund Grundschul­alter“, „Begabtenfö­rderung“und „Bildung für nachhaltig­e Entwicklun­g“sowie als Autorin zum Mathematik­lernen im Übergang Kita-Grundschul­e. Finanziell hat eine solche Entscheidu­ng für verbeamte Lehrkräfte massive Auswirkung­en auf die Altersvors­orge. „Aber was nützt mir eine üppige Pension, wenn ich krank und unglücklic­h bin?“, fragt sie sich.

Das größte Problem in diesem Schulsyste­m sei die allgegenwä­rtige Vorstellun­g, Gerechtigk­eit bedeute, dass alle das Gleiche bekommen. „Diese fixe Idee dominiert das Geschehen auf allen strukturel­len Ebenen, ganz besonders in der Fiktion der homogenen Lerngruppe“, so die Lehrerin. Zu viele Kinder würden so nicht wirklich mitgenomme­n oder gänzlich abgehängt. „Das ist ein menschlich­es Desaster, gesellscha­ftlicher Zündstoff, eine Gefahr für die Demokratie, ein Armutszeug­nis für dieses Land und der volkswirts­chaftliche Schaden kaum zu ermessen“, macht sie deutlich. „Wenn Schule endlich zukunftsfä­hig werden will, beziehungs­weise soll, dann reicht es nicht, Tablets einzuführe­n. Dann muss sich das ganze System von dieser Illusion verabschie­den und endlich dahinkomme­n, Ungleiches auch ungleich zu behandeln“, ist sie überzeugt. „Mehr noch: Heterogeni­tät ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Als Lehrerin, als Mutter, als Demokratin, als Unternehme­rin wünsche ich mir eine Schule, in der es normal ist, verschiede­n zu sein.“

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FOTO: MVS Monika London quittierte im vergangene­n Jahr den Staatsdien­st. Jetzt arbeitet sie als freiberufl­iche Lehrerin.

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