Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Außer Kontrolle
Das Chaos in Haiti ist groß, nachdem Interimspräsident Ariel Henry zurückgetreten ist. Der Karibikstaat steht nun vor der Auflösung – oder einem Neuanfang.
wird. Als Bischof Pierre-André Dumas vor wenigen Wochen Port-au-Prince besuchte, explodierte in der Nähe ein Sprengsatz. Der Bischof wurde schwer verletzt, überlebte aber. Dumas hatte in der Vergangenheit die von den Banden praktizierten Entführungen als „abscheulichen und barbarischen Akt“verurteilt und forderte bei mehreren Gelegenheiten ein Ende „dieser verabscheuungswürdigen und kriminellen Praktiken“. Seine Amtskollegen berichteten: „Seit vier Jahren erlebt unser Land eine der längsten und tödlichsten sozio-politischen und sicherheitspolitischen Krisen seiner Geschichte. Das ganze Volk, das ganze Land ist zutiefst betroffen. Der Staat hat die Kontrolle über das Staatsgebiet verloren“, so die Bischöfe. Die Bevölkerung sei der „gnadenlosen Gewalt der Banden und ihrer Verbündeten“ausgeliefert. Die Banden betrachteten das als einen Angriff auf ihre Macht. Bischof Dumas bekam für seine Äußerungen einen Denkzettel verpasst – in Form einer Bombe.
Laut UN-Angaben sind allein seit Anfang 2024 mehr als 1100 Menschen von den Banden getötet und fast 700 weitere verletzt worden Fast 13.000 Menschen wurden zwischen Januar 2022 und Anfang März 2024 von kriminellen Gruppen getötet, verletzt oder entführt. Tausende von Frauen und Kindern wurden Opfer sexueller Gewalt. Viele wurden anschließend weggeworfen wie Müll. Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist das wohl schlimmste Kapitel der Anarchie in Haiti. Mehr als 362.000 Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Viele Jungen und Mädchen gehen nicht zur Schule, und der Missbrauch von Kindern und die Rekrutierung durch kriminelle Gruppen nehmen zu. Dort gibt es – wenn auch auf Basis brutaler Gewalt – wenigstens eine Aufstiegsperspektive. Und so verschiebt sich die Macht jede Woche ein Stückchen mehr in Richtung Banden und weg vom Staat.
Zunächst einmal aber ist Stunde Null in Haiti. Ohne Regierung, ohne funktionierende Sicherheitskräfte, dafür mit Chaos und Anarchie. Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali, zugleich amtierender Vorsitzender der Karibik-Gemeinschaft namens Caricom, hatte nach einem Haiti-Krisengipfel in Jamaika bestätigt: „Wir nehmen den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry zur Kenntnis.“Da war Henry in Puerto Rico, weil die Banden den Flughafen attackiert hatten, um so seine Rückkehr zu verhindern. Kurz zuvor hatte er einen Abkommen in Kenia über die Hilfsmission abgeschlossen.
Ob es nun einen Neuanfang oder den endgültigen Zusammenbruch gibt, hängt auch davon ab, welche Arbeit die Vereinten Nationen und die vielen Nichtregierungsorganisationen in dem Land leisten. Nach dem verheerenden Erdbeben 2010 mit rund 250.000 Toten strömten unzählige NGOs ins Land und wollten Haiti wieder aufbauen. Oft ohne Zustimmung der Haitianer, was den Helfern den Ruf einbrachte, Besserwisser zu sein. Der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon versprach vollmundig: „Wir müssen ein besseres Haiti schaffen, in dem nicht die meisten Menschen in Armut leben und keine Chance auf Bildung haben. Wir haben einen konkreten Plan für den Wiederaufbau, und dieser Plan trägt eine haitianische Handschrift.“Allein aus Deutschland flossen 200 Millionen Euro Entwicklungshilfe nach Haiti. Das große Versprechen blieb aber unerfüllt.
International war die Anteilnahme groß. George Clooney moderierte eine Spendengala in den USA, 60 Millionen Dollar kamen zusammen. Die Haitianer sollten wissen, dass der Rest der Welt sie nicht vergesse, hieß es damals aus Hollywood. Inzwischen schieben die USA Haitianer ab – trotz der katastrophalen Lage im Land.