Als aus einer Kirche viele wurden
Am 31. Oktober 1517 heftete Luther 95 Thesen an die Schlosskirche in Wittenberg
Eigentlich wollte Luther nur eine Reform. Doch seine Thesen lösten eine Dynamik aus, die in der Spaltung endete. Und die wirkt bis heute nach.
BONN – Wie kommt es, dass ein einfacher Augustinermönch aus der unbedeutenden Universitätsstadt Wittenberg ein welthistorisches Ereignis wie die Reformation auslöst? Mit mächtigen Hammerschlägen, so die traditionelle Vorstellung, heftete Martin Luther am 31. Oktober 1517 nicht nur seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche. Er befreite die Welt zugleich von den dunklen Mächten der Papstkirche und dem finsteren Mittelalter. Doch weder das Spätmittelalter finster, noch waren Luthers Thesen eine revolutionäre Tat, wie die neuere historische Forschung betont.
Grundlegende Reformen
In Luther selbst lebten mittelalterliche Mentalitäten fort: etwa seine Frömmigkeit und sein Glaube an Hexen und Zauberer. Auch war bereits lange vor der Reformation der Ruf nach grundlegenden Reformen in der Kirche erwacht. Die Frage der Rechtfertigung vor Gott, Kritik an der verdorbenen Kirche und der strikten Trennung zwischen Klerus und Laien – all dies hat die Menschen spätestens seit dem 15. Jahrhundert umgetrieben.
Biograf Heinz Schilling sieht Luthers Erfolg nicht zuletzt darin begründet, dass die durch Weltuntergangsängste zutiefst verunsicherten Menschen von einer erstarrten Priesterkirche keine Hilfe mehr erhielten. Der Reformator habe mit seiner Lehre von der Rechtfertigung des Menschen allein durch die Gnade den Nerv der Zeit getroffen.
Luther wollte keine Kirchenspaltung, sondern die „Rückkehr zur ursprünglichen evangelischen Wahrheit“, lautet eine zentraler These aus Schillings Luther-Biografie. Ungewollt löste der Reformator eine dramatische Entwicklung aus: Die innertheologische Debatte verband sich mit sozialen Konflikten und politischen Machtfragen im Reich. Dazu kam Luthers Starrsinn – oder Geradlinigkeit.
Er weigerte sich sowohl gegenüber dem Papst als auch gegenüber Kaiser Karl V., seine Lehren zu widerrufen. Seine Aussage auf dem Wormser Reichstag 1521 „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ist zwar so wohl nie gefallen. Doch stilisierte sie den Mönch zum Streiter für Gewissensfreiheit. Zum Gründungsdowar kument für die neue Konfession wurde die Übersetzung des Neuen Testaments, die der hoch gefährdete Reformator im Versteck auf der Wartburg fertigstellte.
Schnell verbreitete sich der Protestantismus. Immer mehr Landesherren bekannten sich zur Reformation, so dass der Glaubenskonflikt auch die Einheit des Reiches bedrohte. Zugleich spaltete sich die evangelische Bewegung: Streit über das Abendmahl führte zur Trennung zwischen Lutheranern und Reformierten.
Brüchiger Friede
1530 versuchte Karl V. auf dem Augsburger Reichstag, die endgültige Kirchenspaltung zu verhindern. Die evangelischen Reichsstände legten ein Bekenntnis, die „Confessio Augustana“, vor. Doch der Reichstag lehnte die maßvolle, auf Kompromiss setzende Schrift ab. 1546/47 versuchte der Kaiser gar, den Protestantismus durch den Schmalkaldischen Krieg zurückzudrängen. Ein Teilerfolg, ein brüchiger Friede.
Die Reformation ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 gab den Landesfürsten endgültig das Recht, auf ihrem Gebiet die Konfession zu bestimmen – eine Einigung, die auch den Dreißigjährigen Krieg überdauerte.
Letztlich führte Luthers Thesenanschlag ungewollt zu einer „Wende hin zu Säkularität, Pluralität und Gewissensfreiheit der Moderne“, schreibt Luther-Biograf Schilling – auch in der katholischen Kirche. Weil der Reformator den Fürsten eine wichtige Rolle in der Leitung der Kirche einräumte, erhielt der Staat großen Einfluss auf die Religion. Ein Erbe, das die evangelische Kirche bis ins 20. Jahrhundert verfolgte.