HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT
61. FORTSETZUNG
Sein Atem stank nach brennendem Eisen, und als er Kurt traf, war es, als hätte er von einem Augenblick zum anderen alles Frohe und Schöne, alles Helle und – am schlimmsten von allem – jede Hoffnung in ihm zu kalter Schlacke verbrannt. Das war der Moment, in dem Kurt aufgab.
Der geöffnete Rachen schoss vor. Die gewaltigen Zähne schlugen in ungezähmter Gier aufeinander. Im selben Bruchteil einer Sekunde schleuderte die Sousköchin dem Hund ihr Beil entgegen, bückte sich blitzschnell, griff Kurt am Nacken und schrie „Non!“; scharf und hell und klar.
Es war, als prallte der Hund gegen eine unsichtbare Wand. Er keuchte, als die Wucht des unerwarteten Halts ihm den Atem aus dem Leib presste, und dann stand er vor der Sousköchin, die Kurt fest an sich drückte. Der Hund war so groß, dass er der Sousköchin ins Gesicht sehen konnte. Nur wenige Zentimeter vor ihr zog er die Lefzen hoch und entblößte das feurige Rot über den gelben, triefenden Reißzähnen. Die Köchin wandte ihr Gesicht seitwärts, um ihn nicht ansehen zu müssen, aber dann knurrte der Hund und bellte. Es war ein Bellen, wie es keiner der Anwesenden im Train Bleu jemals gehört hatte. Ein bronzenes Dröhnen wie von einer Glocke, aber in sich auf eine bizarre, verbotene Weise verdreht, als käme der Klang rückwärts. Wenn man dieses Bellen hörte, brauchte es nicht den Anblick des Hundes, um zu erkennen, dass es eine tödliche Drohung war. Aber die Köchin, das Gesicht noch immer seitwärts gewandt, um den Eisenatem des Hundes nicht riechen zu müssen, flüsterte noch einmal erstickt: „Non!“
Weder die Köchin noch Kurt konnten sich erklären, was dieses „Non!“bedeutete. Vielleicht war es der Ausdruck eines winzigen Augenblicks der reinen Liebe, eines Wimpernschlags der Bereitschaft, sich für ein anderes Wesen zu opfern. Auf jeden Fall brach dieses „Non!“die Macht des Hundes. Es dauerte einen endlosen Moment, dann drehte sich der Hund einfach um, setzte über die Tische, unter denen sich panisch zitternde, wimmernde Gäste verkrochen hatten, und verschwand durch die schief in ihren Angeln hängenden Türen aus dem Restaurant. Einfach so. Und Kurt vermisste zum ersten Mal ernsthaft die Fähigkeit zu sprechen, denn jetzt hätte er wirklich sehr, sehr gerne „danke“gesagt. Er konnte nicht mehr tun, als sein Gesicht an die Brust der Sousköchin zu drücken, aber die verstand anscheinend auch so.
„Quel bête!“, sagte sie mit zitternder Stimme und setzte Kurt vorsichtig auf den Boden. Ja, dachte auch er, was für ein entsetzliches Vieh! Er hatte keine Ahnung, was da eben geschehen war, aber der Hund hatte es auf ihn abgesehen gehabt. Es bestand überhaupt kein Zweifel, dass er ihn hatte töten wollen. Und er hatte den Eindruck, als habe es sich hier nicht einfach um die übliche Erbfeindschaft zwischen Hund und Katze gehandelt. Dieser Hund hatte ihn vernichten wollen. Und das, dachte er noch immer bebend, war gar nicht gut. Er wollte jetzt nur noch nach Hause.
Hamburg Als Jehudi und Abaddon das Internetcafé betraten, blieben sie überrascht einen Augenblick stehen. Das lag nicht nur an dem Chaos, das durch Fritz angerichtet worden war, als er sich selbst verdroschen hatte. Es lag auch an dem fröhlichen Geschrei, das aus der Menschentraube in der Mitte des Raumes kam.
„Und meine Schwester? Frag sie, wo Fatma ist, bitte!“
„Mamele! Mamele! Wie schön, von dir zu hören!“, schrie ein junger Mann mit Kipa auf dem Kopf aufgeregt in Richtung der drei Computer, vor denen John mit Abu und Mohammad saß. Eine junge, schlanke Inderin im bunten Minirock stand halb weinend, halb lachend auf dem immer noch bewusstlos am Boden liegenden Fritz, um besser zum Bildschirm sehen zu können.
„Ananya!“, rief sie immer wieder. „Tante Ananya!“
Abaddon trat neben sie und warf ebenfalls einen Blick auf den Bildschirm. Obwohl er wesentlich mehr Wellenlängen wahrnehmen konnte als jeder Mensch, fiel es ihm schwer zu erkennen, was er da sah.
„Sagen Sie“, wandte er sich neugierig an die junge Inderin, „hat Ihre Tante da tatsächlich eine Reifentätowierung im Gesicht? Ist das gerade Mode in Asien?“
Jehudi hatte aufgehorcht, schob Abaddon zur Seite, warf nun ebenfalls einen Blick auf die alte Frau, deren aufgeregter Wortschwall auf Bengali blechern aus dem Lautsprecher schepperte, und verdrehte die Augen.
„John!“
Das Internetcafé war ziemlich klein, aber Jehudis Stimme hallte trotzdem wider, als stünde er in einer Kathedrale.
„Ich liebe diesen Effekt“, sagte Abaddon rasch in die betretene Stille, die eingetreten war. „Erinnert mich immer ein bisschen an das Jüngste Gericht.“
Unter ihm regte sich Fritz und stöhnte. Alle anderen schauten zwischen Jehudi und John hin und her, der diesen Tonfall kannte und sich rasch geduckt hatte.
„Äh, ja?“, sagte er und versuchte gleichzeitig herauszufinden, was er falsch gemacht hatte, aber er war nun mal einfach kein schneller Denker. Zudem überforderte ihn gleichzeitiges Reden und Denken. Jehudi registrierte, wie sich der übliche Ausdruck von Sorge, Unsicherheit und Trotz in Johns Gesicht auszubreiten begann, und fühlte ein flüchtiges Mitleid, das aber rasch von dem Bemühen überlagert wurde, seinen gerechten Zorn nicht allzu stark auflodern zu lassen.
FORTSETZUNG FOLGT