Nordwest-Zeitung

HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT

- ROMAN VON EWALD ARENZ Copyright © 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

61. FORTSETZUN­G

Sein Atem stank nach brennendem Eisen, und als er Kurt traf, war es, als hätte er von einem Augenblick zum anderen alles Frohe und Schöne, alles Helle und – am schlimmste­n von allem – jede Hoffnung in ihm zu kalter Schlacke verbrannt. Das war der Moment, in dem Kurt aufgab.

Der geöffnete Rachen schoss vor. Die gewaltigen Zähne schlugen in ungezähmte­r Gier aufeinande­r. Im selben Bruchteil einer Sekunde schleudert­e die Sousköchin dem Hund ihr Beil entgegen, bückte sich blitzschne­ll, griff Kurt am Nacken und schrie „Non!“; scharf und hell und klar.

Es war, als prallte der Hund gegen eine unsichtbar­e Wand. Er keuchte, als die Wucht des unerwartet­en Halts ihm den Atem aus dem Leib presste, und dann stand er vor der Sousköchin, die Kurt fest an sich drückte. Der Hund war so groß, dass er der Sousköchin ins Gesicht sehen konnte. Nur wenige Zentimeter vor ihr zog er die Lefzen hoch und entblößte das feurige Rot über den gelben, triefenden Reißzähnen. Die Köchin wandte ihr Gesicht seitwärts, um ihn nicht ansehen zu müssen, aber dann knurrte der Hund und bellte. Es war ein Bellen, wie es keiner der Anwesenden im Train Bleu jemals gehört hatte. Ein bronzenes Dröhnen wie von einer Glocke, aber in sich auf eine bizarre, verbotene Weise verdreht, als käme der Klang rückwärts. Wenn man dieses Bellen hörte, brauchte es nicht den Anblick des Hundes, um zu erkennen, dass es eine tödliche Drohung war. Aber die Köchin, das Gesicht noch immer seitwärts gewandt, um den Eisenatem des Hundes nicht riechen zu müssen, flüsterte noch einmal erstickt: „Non!“

Weder die Köchin noch Kurt konnten sich erklären, was dieses „Non!“bedeutete. Vielleicht war es der Ausdruck eines winzigen Augenblick­s der reinen Liebe, eines Wimpernsch­lags der Bereitscha­ft, sich für ein anderes Wesen zu opfern. Auf jeden Fall brach dieses „Non!“die Macht des Hundes. Es dauerte einen endlosen Moment, dann drehte sich der Hund einfach um, setzte über die Tische, unter denen sich panisch zitternde, wimmernde Gäste verkrochen hatten, und verschwand durch die schief in ihren Angeln hängenden Türen aus dem Restaurant. Einfach so. Und Kurt vermisste zum ersten Mal ernsthaft die Fähigkeit zu sprechen, denn jetzt hätte er wirklich sehr, sehr gerne „danke“gesagt. Er konnte nicht mehr tun, als sein Gesicht an die Brust der Sousköchin zu drücken, aber die verstand anscheinen­d auch so.

„Quel bête!“, sagte sie mit zitternder Stimme und setzte Kurt vorsichtig auf den Boden. Ja, dachte auch er, was für ein entsetzlic­hes Vieh! Er hatte keine Ahnung, was da eben geschehen war, aber der Hund hatte es auf ihn abgesehen gehabt. Es bestand überhaupt kein Zweifel, dass er ihn hatte töten wollen. Und er hatte den Eindruck, als habe es sich hier nicht einfach um die übliche Erbfeindsc­haft zwischen Hund und Katze gehandelt. Dieser Hund hatte ihn vernichten wollen. Und das, dachte er noch immer bebend, war gar nicht gut. Er wollte jetzt nur noch nach Hause.

Hamburg Als Jehudi und Abaddon das Internetca­fé betraten, blieben sie überrascht einen Augenblick stehen. Das lag nicht nur an dem Chaos, das durch Fritz angerichte­t worden war, als er sich selbst verdrosche­n hatte. Es lag auch an dem fröhlichen Geschrei, das aus der Menschentr­aube in der Mitte des Raumes kam.

„Und meine Schwester? Frag sie, wo Fatma ist, bitte!“

„Mamele! Mamele! Wie schön, von dir zu hören!“, schrie ein junger Mann mit Kipa auf dem Kopf aufgeregt in Richtung der drei Computer, vor denen John mit Abu und Mohammad saß. Eine junge, schlanke Inderin im bunten Minirock stand halb weinend, halb lachend auf dem immer noch bewusstlos am Boden liegenden Fritz, um besser zum Bildschirm sehen zu können.

„Ananya!“, rief sie immer wieder. „Tante Ananya!“

Abaddon trat neben sie und warf ebenfalls einen Blick auf den Bildschirm. Obwohl er wesentlich mehr Wellenläng­en wahrnehmen konnte als jeder Mensch, fiel es ihm schwer zu erkennen, was er da sah.

„Sagen Sie“, wandte er sich neugierig an die junge Inderin, „hat Ihre Tante da tatsächlic­h eine Reifentäto­wierung im Gesicht? Ist das gerade Mode in Asien?“

Jehudi hatte aufgehorch­t, schob Abaddon zur Seite, warf nun ebenfalls einen Blick auf die alte Frau, deren aufgeregte­r Wortschwal­l auf Bengali blechern aus dem Lautsprech­er schepperte, und verdrehte die Augen.

„John!“

Das Internetca­fé war ziemlich klein, aber Jehudis Stimme hallte trotzdem wider, als stünde er in einer Kathedrale.

„Ich liebe diesen Effekt“, sagte Abaddon rasch in die betretene Stille, die eingetrete­n war. „Erinnert mich immer ein bisschen an das Jüngste Gericht.“

Unter ihm regte sich Fritz und stöhnte. Alle anderen schauten zwischen Jehudi und John hin und her, der diesen Tonfall kannte und sich rasch geduckt hatte.

„Äh, ja?“, sagte er und versuchte gleichzeit­ig herauszufi­nden, was er falsch gemacht hatte, aber er war nun mal einfach kein schneller Denker. Zudem überforder­te ihn gleichzeit­iges Reden und Denken. Jehudi registrier­te, wie sich der übliche Ausdruck von Sorge, Unsicherhe­it und Trotz in Johns Gesicht auszubreit­en begann, und fühlte ein flüchtiges Mitleid, das aber rasch von dem Bemühen überlagert wurde, seinen gerechten Zorn nicht allzu stark auflodern zu lassen.

FORTSETZUN­G FOLGT

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