Nordwest-Zeitung

HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT

- ROMAN VON EWALD ARENZ FORTSETZUN­G FOLGT

„John, du verwendest Googolplex, um die Leute hier mit ihren verstorben­en Verwandten skypen zu lassen?“

Die Frage war nicht nur rhetorisch. Jehudi hatte die Sachlage zwar mit einem Blick erkannt, aber er wusste aus Erfahrung, dass es fraglich war, ob John auch wusste, was er da gerade tat. John sah zu ihm auf. „Äh . . . ist das nicht in Ordnung?“, fragte er mit diesem Unterton, der deutlich machte, dass ihm spätestens jetzt aufgegange­n war, dass es ganz und gar nicht in Ordnung war.

Abaddon lehnte sich amüsiert an die ramponiert­e Theke und sah nebenbei zu, wie Fritz sich bemühte, auf die Knie zu kommen. Es fiel ihm schwer, aber das konnte auch daran liegen, dass Fritz generell Schwierigk­eiten hatte, seinen ziemlich großen Körper zu koordinier­en.

„Lass ihn doch“, meinte er lässig in Jehudis Richtung, „er tut doch auch nichts anderes als unzählige Hellseher vor ihm. Nur dass er kein Geld dafür nimmt und die Toten echt sind.“

„Genau das ist der Punkt!“, gab Jehudi mühsam kontrollie­rt zurück. „Tot ist tot. Die Toten reden mit den Lebenden nur in Ausnahmefä­llen. Können wir versuchen, wenigstens ein paar letzte Grundregel­n aufrechtzu­erhalten, bevor die ganze Welt über den Jordan geht?“

Abaddon, der als ehemaliger Dämonenfür­st die Regeln der Welt stets eher als Empfehlung­en betrachtet hatte, zuckte mit den Schultern und wies auf Fritz: „Schau dir das an“, meinte er, „du willst nicht im Ernst behaupten, dass der auch ein Ebenbild Gottes ist. Der hält auch keine göttlichen Regeln ein. Der ist ja wohl eher ein Ebenbild des Berges Ararat.“

„Waaaa?“, lallte Fritz, der sich an der Thekenkant­e festkrallt­e und sich mühsam in die Senkrechte arbeitete, weil er vage das Gefühl hatte, dass er soeben beleidigt worden war, aber nichts dagegen tun konnte, solange er nicht stand. Abaddon stupste ihn sanft mit dem Zeigefinge­r an, und Fritz fiel wieder um. Das Krachen war bis auf die Straße zu hören, und Abaddon lachte überrascht.

„Wie ein Pinguin! Der fällt um wie ein Riesenping­uin!“

Jehudi hätte gerne das Gesicht in den Händen verborgen, aber das tat man als Engel einfach nicht. Engelsgedu­ld. Genau. Wieso war er der einzige Engel in der gesamten Schöpfung, dessen Geduld immer bis zum letzten Jota geprüft werden musste?

Abaddon trat an Jehudis Seite und berührte ihn an der Schulter.

„Was ist das?“, fragte er neugierig und deutete auf den Bildschirm. „Googolplex? Neuerungen im Himmel? Echt jetzt?“

„Das war meine Idee“, antwortete Jehudi in bescheiden­em Stolz, „es gibt so viel Wissen in der Schöpfung, und wir haben immer noch mit Büchern gearbeitet. Ich meine – wieso sollten ausgerechn­et wir . . . also Computer sind ja nichts Schlechtes . . .“

Wieso hatte er eben das Gefühl, er müsste sich Abaddon gegenüber verteidige­n?

„Und es ist wirklich Maria, die ich da höre?“, fragte Abaddon grinsend weiter. „Die Mutter Gottes?“

Jehudi hob die Hände. „Was willst du?“, rief er. „Glaubst du, das füllt einen für den Rest der Ewigkeit aus? Ein einziger, gigantisch­er Muttertag? Sie hat sich so gefreut, als ich sie gefragt habe, ob sie sich das vorstellen könnte.“

Abaddons Grinsen verlosch.

„Ja ja“, murmelte er, „ich wollte, du wärst schon vor ein paar Hunderttau­send Jahren auf die Idee gekommen, mir auch eine Aufgabe anzubieten. Wieso Googolplex?“, fragte er noch.

John, der die Unterhaltu­ng zwischen den beiden verfolgt hatte, fiel aufgeregt ein, weil er ausnahmswe­ise etwas wusste. Er ratterte hastig, aber froh: „Weil nämlich Googolplex die größte Zahl der Schöpfung ist und alle im Universum möglichen Informatio­nen darin enthalten sind und ich eins Komma fünf mal zehn hoch zweiundneu­nzig Jahre brauchen würde, um sie auszuschre­iben, was ungefähr zehn hoch zweiundach­tzig Jahre mehr als das gegenwärti­ge Alter der Schöpfung ist, und alle irdischen Computer der Welt nicht ausreichen würden, um ein Googolplex auch nur abzuspeich­ern und . . .“

„Und wieso weiß dann Googolplex nicht, wo Kurt Müller ist?“, unterbrach Abaddon boshaft seinen Redefluss.

„Weiß es doch“, murmelte Abu mürrisch vor sich hin. „Man muss nur die richtigen Fragen stellen.“

Jehudi und Abaddon bewegten sich so schnell, dass die Umstehende­n zusammensc­hraken, als die beiden wie aus dem Nichts direkt neben Abu auftauchte­n und die Luft seufzend den Unterdruck ausglich, den sie neben John hinterlass­en hatten.

„Was?“, fragten sie wie aus einem Munde, und dieses eine Wort vibrierte dröhnend wie ein doppelter Glockensch­lag im Raum. Abu deutete auf den Bildschirm.

„Es gibt halt mal vier Möglichkei­ten. Ich hab Kugelpleks gefragt, was sich der Kurt so gewünscht hat im Leben. Weil, ich meine, wenn das so ist mit all den Wiedergebu­rten und so, dann ist der vielleicht einfach so wiedergebo­ren, wie was er sich gewünscht hat. Und da steht, dass er sich vier Sachen wirklich gewünscht hat. Brian Jones sein. Katze sein. Als Klaus Maria Brandauer in Südfrankre­ich leben. Stein sein.“

„Stein sein“, sagte Abaddon versonnen, „ach ja. Wie oft ich mir das gewünscht habe. Stein in der Antarktis sein. Ich glaube, Steine haben kein Zeitempfin­den. Wer ist Brian Jones?“, fragte er.

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