HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT
„John, du verwendest Googolplex, um die Leute hier mit ihren verstorbenen Verwandten skypen zu lassen?“
Die Frage war nicht nur rhetorisch. Jehudi hatte die Sachlage zwar mit einem Blick erkannt, aber er wusste aus Erfahrung, dass es fraglich war, ob John auch wusste, was er da gerade tat. John sah zu ihm auf. „Äh . . . ist das nicht in Ordnung?“, fragte er mit diesem Unterton, der deutlich machte, dass ihm spätestens jetzt aufgegangen war, dass es ganz und gar nicht in Ordnung war.
Abaddon lehnte sich amüsiert an die ramponierte Theke und sah nebenbei zu, wie Fritz sich bemühte, auf die Knie zu kommen. Es fiel ihm schwer, aber das konnte auch daran liegen, dass Fritz generell Schwierigkeiten hatte, seinen ziemlich großen Körper zu koordinieren.
„Lass ihn doch“, meinte er lässig in Jehudis Richtung, „er tut doch auch nichts anderes als unzählige Hellseher vor ihm. Nur dass er kein Geld dafür nimmt und die Toten echt sind.“
„Genau das ist der Punkt!“, gab Jehudi mühsam kontrolliert zurück. „Tot ist tot. Die Toten reden mit den Lebenden nur in Ausnahmefällen. Können wir versuchen, wenigstens ein paar letzte Grundregeln aufrechtzuerhalten, bevor die ganze Welt über den Jordan geht?“
Abaddon, der als ehemaliger Dämonenfürst die Regeln der Welt stets eher als Empfehlungen betrachtet hatte, zuckte mit den Schultern und wies auf Fritz: „Schau dir das an“, meinte er, „du willst nicht im Ernst behaupten, dass der auch ein Ebenbild Gottes ist. Der hält auch keine göttlichen Regeln ein. Der ist ja wohl eher ein Ebenbild des Berges Ararat.“
„Waaaa?“, lallte Fritz, der sich an der Thekenkante festkrallte und sich mühsam in die Senkrechte arbeitete, weil er vage das Gefühl hatte, dass er soeben beleidigt worden war, aber nichts dagegen tun konnte, solange er nicht stand. Abaddon stupste ihn sanft mit dem Zeigefinger an, und Fritz fiel wieder um. Das Krachen war bis auf die Straße zu hören, und Abaddon lachte überrascht.
„Wie ein Pinguin! Der fällt um wie ein Riesenpinguin!“
Jehudi hätte gerne das Gesicht in den Händen verborgen, aber das tat man als Engel einfach nicht. Engelsgeduld. Genau. Wieso war er der einzige Engel in der gesamten Schöpfung, dessen Geduld immer bis zum letzten Jota geprüft werden musste?
Abaddon trat an Jehudis Seite und berührte ihn an der Schulter.
„Was ist das?“, fragte er neugierig und deutete auf den Bildschirm. „Googolplex? Neuerungen im Himmel? Echt jetzt?“
„Das war meine Idee“, antwortete Jehudi in bescheidenem Stolz, „es gibt so viel Wissen in der Schöpfung, und wir haben immer noch mit Büchern gearbeitet. Ich meine – wieso sollten ausgerechnet wir . . . also Computer sind ja nichts Schlechtes . . .“
Wieso hatte er eben das Gefühl, er müsste sich Abaddon gegenüber verteidigen?
„Und es ist wirklich Maria, die ich da höre?“, fragte Abaddon grinsend weiter. „Die Mutter Gottes?“
Jehudi hob die Hände. „Was willst du?“, rief er. „Glaubst du, das füllt einen für den Rest der Ewigkeit aus? Ein einziger, gigantischer Muttertag? Sie hat sich so gefreut, als ich sie gefragt habe, ob sie sich das vorstellen könnte.“
Abaddons Grinsen verlosch.
„Ja ja“, murmelte er, „ich wollte, du wärst schon vor ein paar Hunderttausend Jahren auf die Idee gekommen, mir auch eine Aufgabe anzubieten. Wieso Googolplex?“, fragte er noch.
John, der die Unterhaltung zwischen den beiden verfolgt hatte, fiel aufgeregt ein, weil er ausnahmsweise etwas wusste. Er ratterte hastig, aber froh: „Weil nämlich Googolplex die größte Zahl der Schöpfung ist und alle im Universum möglichen Informationen darin enthalten sind und ich eins Komma fünf mal zehn hoch zweiundneunzig Jahre brauchen würde, um sie auszuschreiben, was ungefähr zehn hoch zweiundachtzig Jahre mehr als das gegenwärtige Alter der Schöpfung ist, und alle irdischen Computer der Welt nicht ausreichen würden, um ein Googolplex auch nur abzuspeichern und . . .“
„Und wieso weiß dann Googolplex nicht, wo Kurt Müller ist?“, unterbrach Abaddon boshaft seinen Redefluss.
„Weiß es doch“, murmelte Abu mürrisch vor sich hin. „Man muss nur die richtigen Fragen stellen.“
Jehudi und Abaddon bewegten sich so schnell, dass die Umstehenden zusammenschraken, als die beiden wie aus dem Nichts direkt neben Abu auftauchten und die Luft seufzend den Unterdruck ausglich, den sie neben John hinterlassen hatten.
„Was?“, fragten sie wie aus einem Munde, und dieses eine Wort vibrierte dröhnend wie ein doppelter Glockenschlag im Raum. Abu deutete auf den Bildschirm.
„Es gibt halt mal vier Möglichkeiten. Ich hab Kugelpleks gefragt, was sich der Kurt so gewünscht hat im Leben. Weil, ich meine, wenn das so ist mit all den Wiedergeburten und so, dann ist der vielleicht einfach so wiedergeboren, wie was er sich gewünscht hat. Und da steht, dass er sich vier Sachen wirklich gewünscht hat. Brian Jones sein. Katze sein. Als Klaus Maria Brandauer in Südfrankreich leben. Stein sein.“
„Stein sein“, sagte Abaddon versonnen, „ach ja. Wie oft ich mir das gewünscht habe. Stein in der Antarktis sein. Ich glaube, Steine haben kein Zeitempfinden. Wer ist Brian Jones?“, fragte er.