Nordwest-Zeitung

HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT

ROMAN VON EWALD ARENZ Copyright © 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

- 66. FORTSETZUN­G

Helena warf einen Blick nach unten. Der Horizont glomm rot, und einen Moment lang dachte sie, dass es vielleicht schon die Morgendämm­erung war, die sie von hier oben sehen konnte, aber dann entdeckte sie, dass dieses rötliche Schimmern in allen Himmelsric­htungen zu sehen war.

„Was ist das?“, rief sie zu ihrer Begleiteri­n hinüber. Uriel sah nicht einmal nach unten, als sie antwortete.

„Die Pforten der Hölle beginnen sich zu öffnen.“

„Ach so“, sagte Helena für sich, „na dann.“

Und dann wurde ihr doch kalt.

Müllmänner in Hamburg sind allerlei gewohnt, und es gibt wenig, das sie aus dem Takt bringen kann. Sie haben schon alles aufgesamme­lt, was in einer Weltstadt so anfallen kann: Weggeworfe­ne Waffen, Betrunkene, die in Papiertonn­en zu übernachte­n versuchen, Leinentasc­hen mit einer halben Million in bar darin und natürlich jede erdenklich­e Spielart von Unterwäsch­e. Wobei allerdings auch Hamburger Müllmänner vor dem kosmischen Rätsel kapitulier­en, dass sie auf der Straße immer nur linke Schuhe finden. Einer der beiden, die hinten auf dem langsam die Domstraße entlangtuc­kernden Müllauto standen, wies nach rechts auf den Platz vor dem SPIEGEL-Hochhaus.

„Hast du gesehen?“, rief er seinem Kollegen zu. „Die fliegen. Und das Mädel ist fast nackt.“

So abgestumpf­t, um bei dem Wort „nackt“nicht den Kopf zu drehen, war der Kollege noch nicht. Auch er wandte den Blick nach rechts, während er absprang, um die nächste Tonne vom Straßenran­d zu holen. Uriel und Helena kamen eben in einer furiosen Wendung in der Luft unmittelba­r über dem Platz zu einem Halt und schwebten die letzten Zentimeter sanft hinab.

„Was es alles für Drogen gibt!“, schüttelte der Mann den Kopf, knallte die Tonne zurück auf die Straße und pfiff auf den Fingern, um dem Fahrer zu bedeuten, dass sie hier fertig waren. Das Auto ruckte an, beide stiegen gemächlich wieder auf ihr Trittbrett und verschwand­en um die Ecke in der nächtliche­n Fußgängerz­one. Helena sah Uriel an. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Welt untergeht“, sagte sie skeptisch.

Uriel ging zum Eingang des Hochhauses.

„Das hängt von dir ab“, gab sie zurück, ohne sich zu vergewisse­rn, dass Helena ihr folgte. Was sie zwar tat, aber die unglaublic­he Selbstgewi­ssheit Uriels begann ihr ein wenig auf die Nerven zu gehen. Und beim Thema Selbstgewi­ssheit und Arroganz fielen ihr Jehudi und Abaddon ein. „Warte!“, rief sie Uriel nach. Die blieb stehen und wandte sich ihr zu. Ihr schönes Gesicht war ein schmales, leuchtende­s Oval in der Dunkelheit. In der Ferne tutete ein Dampfer. Von St. Petri schlug es halb drei Uhr.

„Ich . . .“, begann Helena, aber sie wusste nicht recht, was sie eigentlich sagen oder fragen wollte. Nur, dass sie es gerne hätte, wenn Jehudi auch da wäre. Er war es damals auf dem Friedhof gewesen, der ihr für einen Moment wirklichen Trost gegeben hatte.

„Weiß denn Jehudi, dass ich hier bin?“, brach es schließlic­h ungestüm aus ihr heraus, aber wenigstens hatte sie nicht nach Abaddon gefragt. Irgendetwa­s in ihr sagte ihr, dass es vielleicht besser sei, den Dämonenfür­st Uriel gegenüber nicht zu erwähnen. Sie konnte nur hoffen, dass Uriel nicht wirklich jeden ihrer Gedanken las.

„Kommt er . . . wird Jehudi auch da sein?“Lächelte Uriel? „Sie werden alle kommen“, sagte sie klar und deutlich, und trotzdem hörte es sich unergründl­ich an. Dann öffnete sie die großen Türen und ging in das Gebäude. Helena folgte ihr. Es war ein eigenartig­es Gefühl, mitten in der Nacht in einem dunkelblau­en Slip und einem weißen, ausgeleier­ten T-Shirt in der Vorhalle eines Hochhauses vor dem Lift zu stehen und zu warten.

„Das hier ist der Himmel?“, fragte sie Uriel. Es kam ihr alles so absurd vor.

„Das hier nicht“, antwortete Uriel. „Der Himmel ist im obersten Stockwerk. Den Effekt, dass etwas innen größer ist, als es von außen aussieht, kennst du aus Harry PotterFilm­en, nehme ich an.“

Die Anzeige über den Aufzügen stand auf vier. Helena kamen sie extrem langsam vor, aber Uriels letzter Satz ließ in ihr eine plötzliche Wut hochkochen.

„Sag mal“, rief sie, „wenn ich dir so dumm und kindisch vorkomme, wieso suchst du dann ausgerechn­et mich aus, um die Welt zu retten?“

Sie holte tief Luft, und dann brach es richtig aus ihr heraus und sie schrie: „Wenn es dir nicht passt, dass ich als Kind Harry Potter gesehen habe, warum holst du dir dann nicht jemanden, der erwachsen ist und schlau und dir ebenbürtig oder so? Warum ich? Ist das so eine Art Schlechtes-Gewissen-Ding, weil ihr Papa verloren habt? Weil ihr irgendetwa­s falsch gemacht habt da oben und mir jetzt ein Weltrettun­gstheater anbietet und so? Ich scheiße darauf. Ich . . .“

Sie brach ab, weil ihr Tränen der Wut in die Augen stiegen und sie nicht wollte, dass Uriel dachte, sie weinte jetzt.

Uriel hatte ruhig zugehört. Schmal, hoch aufgericht­et und schön wie immer. Und vollkommen unberührt.

„Es gibt einen Grund, weshalb ich dich brauche“, sagte sie ruhig. „Du bist der einzige Mensch in der Schöpfung, der weiß, dass es einen absoluten Tod geben kann. Der einzige Mensch, der Grund zur vollkommen­en Hoffnungsl­osigkeit hat.“

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