GESUNDER UMGANG MIT MEDIEN
Pädagoge Wilfried Brüning schlägt „Neuronen-Schutzprogramm“für Kinder vor
Wenn Kinder Zeit mit Bildschirm-Medien verbringen, ist ein Ausgleich in realer Spielzeit nötig. Das fordert Medienpädagoge Wilfried Brüning.
FRAGE: Herr Brüning, Sie warnen davor, dass übermäßiger Bildschirm-Medienkonsum die Gehirnzellen von Kindern auf Nimmerwiedersehen vergammeln lässt. Was kann man für die Rettung tun? BRÜNING: Es geht darum, den digitalen Wandel im Kinderzimmer zu gestalten. Wie können wir unsere Kinder in die Lage versetzen, die Herkulesaufgabe der industriellen Revolution 4.0 erfolgreich zu bestehen? Die können sie eben nicht dadurch bewältigen, indem sie möglichst früh an digitale Medien herangeführt werden. Um Kinder dafür stark zu machen, brauchen sie eine Ausbildung, die weitestgehend ohne die neuen Medien auskommt. Die Elite aus Silicon Valley, die Mitarbeiter und Manager von Apple, Google, Facebook, Hewlett-Packard, Tesla und Co. – wissen Sie, wo die ihre Kinder hinschicken? FRAGE: Nein. Wohin? BRÜNING: Auf Waldorfschulen. Weil diejenigen, die sich mit digitalen Medien bestens auskennen, wissen, dass unsere Kinder eine Ausbildung mit allen Sinnen brauchen. Wir alle kommen mit einer fantastischen Grundausstattung von 100 Milliarden Neuronen auf die Welt. Es muss darum gehen, in der Phase der Kindergartenzeit die noch ungenutzten Neuronen aus dem Standby-Modus zu holen. Dieses Aktivieren geht am erfolgreichsten mit allen Sinnen. Fernsehen und Computer sind nur zwei Sinn-Medien. Das heißt, die Kinder werden dazu gezwungen, Informationen nur über den Seh- und den Hörsinn aufzunehmen. Drei Sinne bleiben außen vor. Und das ist das Problem. Deswegen müssen wir den Medienkonsum altersgemäß begrenzen, sonst kommen die Neuronen als Wissensmacher nicht auf Betriebstemperatur. FRAGE: Wie wirkt sich das aus? BRÜNING: Ein überwiegend real spielendes Kind kann bis zum Beginn der Grundschulzeit 70 Milliarden Neuronen aktivieren. Bei Bildschirm-Medien-Kindern sind es nur 35 Milliarden Neuronen. Ohne dieses Fundament an aktiven Neuronen wirken sie oft mutlos und lustlos. BildschirmMedien sind nicht gut oder schlecht, sondern sie sind einfach für die Entwicklung unserer Kinder denkbar ungeeignet. Meine Frau und ich haben ein Neuronenschutzprogramm entwickelt. Wir möchten, dass es in der Arbeit an Kitas und Grundschulen denselben Stellenwert bekommt wie die Verkehrserziehung oder die Zahnpflege. FRAGE: Es gibt aber Eltern, die meinen, dass ihre Kinder die Möglichkeiten der digitalen Welt nicht verschlafen sollen. Was antworten Sie denen? BRÜNING: Es geht nicht ums Verbieten, wir führen keinen Kreuzzug gegen digitale Medien. Der kreative, schöpferische Umgang mit digitaler Technik ist unproblematisch. Begrenzt werden muss der BildschirmMedienkonsum mit Fernsehen, DVD, Computerspielen und Chatten. Den Anschluss verpassen die Kinder, die allzu früh mit digitalen Medien in Kontakt kommen, ohne das Spektrum ihrer eigenen Fantasie auszuloten. Fantasie ist eines der wichtigsten Werkzeuge für die Zukunft. FRAGE: Warum können sich Kinder drei Stunden hochkonzentriert einem Computerspiel widmen, aber einer Matheaufgabe noch nicht einmal zehn Minuten? BRÜNING: Das liegt am Dopamin, das unser Gehirn ausschüttet, um uns zu belohnen. Dopamin ist eine Superdroge, die regelrecht süchtig macht, weil sie uns gute Gefühle verschafft. Computerspiele haben da eine ganz tückische Eigenschaft: Sobald sich unsere Kinder vor eine Spielkonsole setzen, erhöht sich die Dopaminfrequenz sofort um 50 Prozent. Kinder werden hier schneller belohnt, viel schneller als für Erfolgserlebnisse im realen Leben. Das Gehirn kann nicht zwischen einem realen oder virtuellen Lernerfolg unterscheiden. Deswegen kämpfen Kinder auch um jede Bildschirmminute. FRAGE: Das macht es für Eltern nicht gerade leichter, die Begrenzung ohne großes Murren bei ihren Kindern durchzusetzen, oder? BRÜNING: Wenn Eltern wollen, dass sich ihre Kinder zu lebensbejahenden und selbstständigen Menschen entwickeln, müssen sie ihren Erziehungsauftrag um diese unangenehme Aufgabe erweitern. Die richtige Balance lässt sich mithilfe der „Zwei-WeltenWaage“finden. FRAGE: Wie funktioniert das? BRÜNING: Für Kindergartenkinder gilt: Zehn Minuten Bildschirmmedien-Zeit müssen mit 40 Minuten realer Spielzeit ausgeglichen werden. Für Grundschulkinder gilt: Zehn Minuten am Bildschirm müssen mit 30 Minuten realem Erleben ausgeglichen werden. Für Kinder an weiterführenden Schulen bis zum 18. Lebensjahr lautet die Formel: Zehn Minuten an Bildschirmen erfordern 20 Minuten Bewegung draußen.
„Dopamin ist eine Superdroge, die Kinder regelrecht süchtig macht“