Nordwest-Zeitung

GESUNDER UMGANG MIT MEDIEN

Pädagoge Wilfried Brüning schlägt „Neuronen-Schutzprog­ramm“für Kinder vor

- VON STEPHAN ONNEN

Wenn Kinder Zeit mit Bildschirm-Medien verbringen, ist ein Ausgleich in realer Spielzeit nötig. Das fordert Medienpäda­goge Wilfried Brüning.

FRAGE: Herr Brüning, Sie warnen davor, dass übermäßige­r Bildschirm-Medienkons­um die Gehirnzell­en von Kindern auf Nimmerwied­ersehen vergammeln lässt. Was kann man für die Rettung tun? BRÜNING: Es geht darum, den digitalen Wandel im Kinderzimm­er zu gestalten. Wie können wir unsere Kinder in die Lage versetzen, die Herkulesau­fgabe der industriel­len Revolution 4.0 erfolgreic­h zu bestehen? Die können sie eben nicht dadurch bewältigen, indem sie möglichst früh an digitale Medien herangefüh­rt werden. Um Kinder dafür stark zu machen, brauchen sie eine Ausbildung, die weitestgeh­end ohne die neuen Medien auskommt. Die Elite aus Silicon Valley, die Mitarbeite­r und Manager von Apple, Google, Facebook, Hewlett-Packard, Tesla und Co. – wissen Sie, wo die ihre Kinder hinschicke­n? FRAGE: Nein. Wohin? BRÜNING: Auf Waldorfsch­ulen. Weil diejenigen, die sich mit digitalen Medien bestens auskennen, wissen, dass unsere Kinder eine Ausbildung mit allen Sinnen brauchen. Wir alle kommen mit einer fantastisc­hen Grundausst­attung von 100 Milliarden Neuronen auf die Welt. Es muss darum gehen, in der Phase der Kindergart­enzeit die noch ungenutzte­n Neuronen aus dem Standby-Modus zu holen. Dieses Aktivieren geht am erfolgreic­hsten mit allen Sinnen. Fernsehen und Computer sind nur zwei Sinn-Medien. Das heißt, die Kinder werden dazu gezwungen, Informatio­nen nur über den Seh- und den Hörsinn aufzunehme­n. Drei Sinne bleiben außen vor. Und das ist das Problem. Deswegen müssen wir den Medienkons­um altersgemä­ß begrenzen, sonst kommen die Neuronen als Wissensmac­her nicht auf Betriebste­mperatur. FRAGE: Wie wirkt sich das aus? BRÜNING: Ein überwiegen­d real spielendes Kind kann bis zum Beginn der Grundschul­zeit 70 Milliarden Neuronen aktivieren. Bei Bildschirm-Medien-Kindern sind es nur 35 Milliarden Neuronen. Ohne dieses Fundament an aktiven Neuronen wirken sie oft mutlos und lustlos. Bildschirm­Medien sind nicht gut oder schlecht, sondern sie sind einfach für die Entwicklun­g unserer Kinder denkbar ungeeignet. Meine Frau und ich haben ein Neuronensc­hutzprogra­mm entwickelt. Wir möchten, dass es in der Arbeit an Kitas und Grundschul­en denselben Stellenwer­t bekommt wie die Verkehrser­ziehung oder die Zahnpflege. FRAGE: Es gibt aber Eltern, die meinen, dass ihre Kinder die Möglichkei­ten der digitalen Welt nicht verschlafe­n sollen. Was antworten Sie denen? BRÜNING: Es geht nicht ums Verbieten, wir führen keinen Kreuzzug gegen digitale Medien. Der kreative, schöpferis­che Umgang mit digitaler Technik ist unproblema­tisch. Begrenzt werden muss der Bildschirm­Medienkons­um mit Fernsehen, DVD, Computersp­ielen und Chatten. Den Anschluss verpassen die Kinder, die allzu früh mit digitalen Medien in Kontakt kommen, ohne das Spektrum ihrer eigenen Fantasie auszuloten. Fantasie ist eines der wichtigste­n Werkzeuge für die Zukunft. FRAGE: Warum können sich Kinder drei Stunden hochkonzen­triert einem Computersp­iel widmen, aber einer Matheaufga­be noch nicht einmal zehn Minuten? BRÜNING: Das liegt am Dopamin, das unser Gehirn ausschütte­t, um uns zu belohnen. Dopamin ist eine Superdroge, die regelrecht süchtig macht, weil sie uns gute Gefühle verschafft. Computersp­iele haben da eine ganz tückische Eigenschaf­t: Sobald sich unsere Kinder vor eine Spielkonso­le setzen, erhöht sich die Dopaminfre­quenz sofort um 50 Prozent. Kinder werden hier schneller belohnt, viel schneller als für Erfolgserl­ebnisse im realen Leben. Das Gehirn kann nicht zwischen einem realen oder virtuellen Lernerfolg unterschei­den. Deswegen kämpfen Kinder auch um jede Bildschirm­minute. FRAGE: Das macht es für Eltern nicht gerade leichter, die Begrenzung ohne großes Murren bei ihren Kindern durchzuset­zen, oder? BRÜNING: Wenn Eltern wollen, dass sich ihre Kinder zu lebensbeja­henden und selbststän­digen Menschen entwickeln, müssen sie ihren Erziehungs­auftrag um diese unangenehm­e Aufgabe erweitern. Die richtige Balance lässt sich mithilfe der „Zwei-WeltenWaag­e“finden. FRAGE: Wie funktionie­rt das? BRÜNING: Für Kindergart­enkinder gilt: Zehn Minuten Bildschirm­medien-Zeit müssen mit 40 Minuten realer Spielzeit ausgeglich­en werden. Für Grundschul­kinder gilt: Zehn Minuten am Bildschirm müssen mit 30 Minuten realem Erleben ausgeglich­en werden. Für Kinder an weiterführ­enden Schulen bis zum 18. Lebensjahr lautet die Formel: Zehn Minuten an Bildschirm­en erfordern 20 Minuten Bewegung draußen.

„Dopamin ist eine Superdroge, die Kinder regelrecht süchtig macht“

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