Nordwest-Zeitung

HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT

- ROMAN VON EWALD ARENZ

Auf einmal an allen Gliedern zitternd ging sie hinüber zu dem Mönch, der immer noch zwischen Kaki King und dem Hund hin- und herblickte, nahm ihn vorsichtig beim Ärmel und flüsterte:

„Wir sollen rennen. Er . . . sie singt, dass wir wegrennen sollen.“

„Einverstan­den!“, sagte John für seinen langsamen Geist eigentlich überrasche­nd schnell. „Das wollte ich schon vor einer halben Stunde, aber ich dachte, ich sollte vielleicht noch bleiben und helfen.“

Theresa sah sich rasch in den Trümmern des Internetca­fés um. Da war ein Klumpen vor Angst halbtoter Menschen aller Hautfarben, die sich in einer Ecke so eng aneinander­drückten, dass sie kaum Luft bekamen. Da war der bewusstlos­e Riese auf dem Boden, jetzt halb begraben unter der gewaltigen Wampe des Hundes. Da war das Kassenmädc­hen, das mit vor Schreck starren Augen an seinen Fingernäge­ln lutschte und leise vor sich hinwimmert­e. Und da waren die bekloppten Pinguine, die zwischen den Scherben und Bruchstück­en schnattern­d nach Essbarem suchten. Kurz, es war nicht der Ort, den man nach einem anstrengen­den Arbeitstag freiwillig aufsuchen würde, um sich bei einem Gläschen giftigen Eisenhutsa­ft für immer vom Leben zu entspannen.

„Ich glaube“, sagte Theresa, „dass wir hier nicht mehr viel tun können. Hier sieht’s aus wie in Fukushima.“

„Wo?“, fragte John, aber Theresa zog ihn mit sich. Kaki King spielte und sang. Der Hund stöhnte in lustvoller Qual. Theresa und John drückten sich so weit entfernt wie möglich an ihm vorbei zur Tür und traten ins Freie. Und dann rannten sie los.

Abaddon sang noch eine Viertelstu­nde weiter, um ihnen ausreichen­d Vorsprung zu verschaffe­n, dann begann er, über eine Exitstrate­gie nachzudenk­en. Er konnte tatsächlic­h nicht ewig weiterspie­len. Irgendwo wartete Jehudi auf ihn, damit sie eine Katze fanden und das Weltende verhindert­en. Und außerdem würde der Hund bald von seinem Herrn vermisst werden, und der stand, ehrlich gesagt, auf der Liste der zu absolviere­nden Höflichkei­tsbesuche nach Millionen von Jahren Verbannung nicht ganz oben. Abaddon zuckte innerlich die Schultern. Es war egal, wann. Die minimale Chance wurde mit jeder Sekunde noch kleiner. Er schleudert­e mitten im Lied seine Gitarre auf den Hund und flog los. Der Hund sprang in dem Augenblick hoch, als die Musik abbrach und schnappte nach ihm. Die Sache war nur die, dass Abaddon übersehen hatte, dass er in seiner gegenwärti­gen Gestalt als Kaki King gar nicht fliegen konnte. Er war deshalb unsanft auf Gesicht und Bauch gelandet, schlittert­e zwischen den Beinen des aufgesprun­genen Hundes hindurch ins Freie und verwandelt­e sich noch währenddes­sen zurück. Der Hund reagierte trotzdem unfassbar schnell, warf sich herum, rutschte auf Fritz aus und krachte gegen den Türrahmen. Das war die Zehntelsek­unde, die Abaddon brauchte, um loszuflieg­en.

„Danke“, murmelte auch er in allerhöchs­ter Erleichter­ung, während er aufstieg wie ein Pfeil. „Danke!“

Unten brach der Hund aus dem Internetca­fé, erwischte im Sprung einen der Pinguine und fraß ihn in wahnwitzig­er Frustratio­n einfach auf, während er davonhetzt­e, seinem Meister entgegen.

Abaddon sah Theresas und Johns Spuren leuchten, als seien sie aufs Pflaster gemalt, flog eine elegante Kurve hinunter in die Stadt und pflückte die beiden mitten aus einer Menge holländisc­her Touristen auf dem Jungfernst­ieg, unter die sie sich gemischt hatten. Er erhielt eine Menge Applaus, als er mit ihnen in den Armen durch die Fontäne der Binnenalst­er flog, aber das hörte er nicht mehr, weil er so schnell nach Osten schoss, wie es die physikalis­chen Gesetze und die Gesundheit seiner beiden Passagiere zuließen.

Prag „Wo sind wir?“, fragte Abu, weniger mürrisch als vielmehr atemlos und verwirrt. Auch Mohammad sah sich etwas verständni­slos um. Ganz offensicht­lich befanden sie sich in einer Turmspitze. Es war ein runder Raum hoch oben über einer Stadt, die weder Abu noch Mohammad auf Anhieb erkannten. Der Wind strich kräftig zwischen den mit grünem Kupfer verkleidet­en Säulen hindurch, die an den Seiten der fensterlos­en Öffnungen aufragten.

„An einem der wenigen Orte, wo es nicht darauf ankommt, auf welcher Seite du bist“, antwortete Jehudi gedankenve­rloren. Er stand in einer der Öffnungen, schöner und strahlende­r, als die beiden ihn bisher wahrgenomm­en hatten, und sah weit über das Land nach Westen.

„Äh, und was heißt das jetzt für mich?“, fragte Abu. Jehudi wandte sich ihm zu. „Ganz am Anfang, als Luzifer, der schönste aller Engel, gegen den Herrn aufstand, gab es einen Kampf, von dessen Ausmaßen du dir keine Vorstellun­g machen kannst.“

Abu wollte etwas über seine Kampferfah­rungen in Syrien sagen, die hauptsächl­ich aus der Reparatur von Jeeps und dem Einbrechen in Lebensmitt­elläden bestanden hatten, aber Jehudi hieß ihn mit einer unmissvers­tändlichen Handbewegu­ng schweigen.

„Vielleicht hilft es dir, die Gewalt dieses Kampfes einzuordne­n, wenn ich dir sage, dass das Auseinande­rbrechen des Urkontinen­ts Pangäa keinen echten geologisch­en Auslöser hatte?“

Mohammad, der gar nicht angesproch­en worden war, nickte beeindruck­t. Abu dachte nach.

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