HERR MÜLLER, DIE VERRÜCKTE KATZE UND GOTT
Auf einmal an allen Gliedern zitternd ging sie hinüber zu dem Mönch, der immer noch zwischen Kaki King und dem Hund hin- und herblickte, nahm ihn vorsichtig beim Ärmel und flüsterte:
„Wir sollen rennen. Er . . . sie singt, dass wir wegrennen sollen.“
„Einverstanden!“, sagte John für seinen langsamen Geist eigentlich überraschend schnell. „Das wollte ich schon vor einer halben Stunde, aber ich dachte, ich sollte vielleicht noch bleiben und helfen.“
Theresa sah sich rasch in den Trümmern des Internetcafés um. Da war ein Klumpen vor Angst halbtoter Menschen aller Hautfarben, die sich in einer Ecke so eng aneinanderdrückten, dass sie kaum Luft bekamen. Da war der bewusstlose Riese auf dem Boden, jetzt halb begraben unter der gewaltigen Wampe des Hundes. Da war das Kassenmädchen, das mit vor Schreck starren Augen an seinen Fingernägeln lutschte und leise vor sich hinwimmerte. Und da waren die bekloppten Pinguine, die zwischen den Scherben und Bruchstücken schnatternd nach Essbarem suchten. Kurz, es war nicht der Ort, den man nach einem anstrengenden Arbeitstag freiwillig aufsuchen würde, um sich bei einem Gläschen giftigen Eisenhutsaft für immer vom Leben zu entspannen.
„Ich glaube“, sagte Theresa, „dass wir hier nicht mehr viel tun können. Hier sieht’s aus wie in Fukushima.“
„Wo?“, fragte John, aber Theresa zog ihn mit sich. Kaki King spielte und sang. Der Hund stöhnte in lustvoller Qual. Theresa und John drückten sich so weit entfernt wie möglich an ihm vorbei zur Tür und traten ins Freie. Und dann rannten sie los.
Abaddon sang noch eine Viertelstunde weiter, um ihnen ausreichend Vorsprung zu verschaffen, dann begann er, über eine Exitstrategie nachzudenken. Er konnte tatsächlich nicht ewig weiterspielen. Irgendwo wartete Jehudi auf ihn, damit sie eine Katze fanden und das Weltende verhinderten. Und außerdem würde der Hund bald von seinem Herrn vermisst werden, und der stand, ehrlich gesagt, auf der Liste der zu absolvierenden Höflichkeitsbesuche nach Millionen von Jahren Verbannung nicht ganz oben. Abaddon zuckte innerlich die Schultern. Es war egal, wann. Die minimale Chance wurde mit jeder Sekunde noch kleiner. Er schleuderte mitten im Lied seine Gitarre auf den Hund und flog los. Der Hund sprang in dem Augenblick hoch, als die Musik abbrach und schnappte nach ihm. Die Sache war nur die, dass Abaddon übersehen hatte, dass er in seiner gegenwärtigen Gestalt als Kaki King gar nicht fliegen konnte. Er war deshalb unsanft auf Gesicht und Bauch gelandet, schlitterte zwischen den Beinen des aufgesprungenen Hundes hindurch ins Freie und verwandelte sich noch währenddessen zurück. Der Hund reagierte trotzdem unfassbar schnell, warf sich herum, rutschte auf Fritz aus und krachte gegen den Türrahmen. Das war die Zehntelsekunde, die Abaddon brauchte, um loszufliegen.
„Danke“, murmelte auch er in allerhöchster Erleichterung, während er aufstieg wie ein Pfeil. „Danke!“
Unten brach der Hund aus dem Internetcafé, erwischte im Sprung einen der Pinguine und fraß ihn in wahnwitziger Frustration einfach auf, während er davonhetzte, seinem Meister entgegen.
Abaddon sah Theresas und Johns Spuren leuchten, als seien sie aufs Pflaster gemalt, flog eine elegante Kurve hinunter in die Stadt und pflückte die beiden mitten aus einer Menge holländischer Touristen auf dem Jungfernstieg, unter die sie sich gemischt hatten. Er erhielt eine Menge Applaus, als er mit ihnen in den Armen durch die Fontäne der Binnenalster flog, aber das hörte er nicht mehr, weil er so schnell nach Osten schoss, wie es die physikalischen Gesetze und die Gesundheit seiner beiden Passagiere zuließen.
Prag „Wo sind wir?“, fragte Abu, weniger mürrisch als vielmehr atemlos und verwirrt. Auch Mohammad sah sich etwas verständnislos um. Ganz offensichtlich befanden sie sich in einer Turmspitze. Es war ein runder Raum hoch oben über einer Stadt, die weder Abu noch Mohammad auf Anhieb erkannten. Der Wind strich kräftig zwischen den mit grünem Kupfer verkleideten Säulen hindurch, die an den Seiten der fensterlosen Öffnungen aufragten.
„An einem der wenigen Orte, wo es nicht darauf ankommt, auf welcher Seite du bist“, antwortete Jehudi gedankenverloren. Er stand in einer der Öffnungen, schöner und strahlender, als die beiden ihn bisher wahrgenommen hatten, und sah weit über das Land nach Westen.
„Äh, und was heißt das jetzt für mich?“, fragte Abu. Jehudi wandte sich ihm zu. „Ganz am Anfang, als Luzifer, der schönste aller Engel, gegen den Herrn aufstand, gab es einen Kampf, von dessen Ausmaßen du dir keine Vorstellung machen kannst.“
Abu wollte etwas über seine Kampferfahrungen in Syrien sagen, die hauptsächlich aus der Reparatur von Jeeps und dem Einbrechen in Lebensmittelläden bestanden hatten, aber Jehudi hieß ihn mit einer unmissverständlichen Handbewegung schweigen.
„Vielleicht hilft es dir, die Gewalt dieses Kampfes einzuordnen, wenn ich dir sage, dass das Auseinanderbrechen des Urkontinents Pangäa keinen echten geologischen Auslöser hatte?“
Mohammad, der gar nicht angesprochen worden war, nickte beeindruckt. Abu dachte nach.