Raus aus der
Das Jugendamt
In zwei Dritteln aller gemeldeten Fälle besteht laut Jugendamt keine Gefährdung für Kinder. Beim dritten Drittel aber muss mehr oder minder sofort gehandelt werden.
OLDENBURG – Bittere Schreie. Die ganze Nacht hindurch. Um eins, um drei, um fünf. Mehrfach und immer wieder. Es ist ein Kreischen, ein Jammern. Ein inneres Donnern und durchdringendes Heulen. Irgendwo hier, in nächster Nachbarschaft. Das sind doch bestimmt die von da drüben, die mit dem kleinen Kind! Bauchschmerzen können es nicht sein. Vielleicht das erste Zahnen? Na, wird sich schon irgendwie regeln. Irgendjemand wird sich sicher darum kümmern ...
280 Straftaten mit dem Marker „Häusliche Gewalt“hatte die Polizei im vergangenen Jahr verzeichnet – darunter Mann schlägt Frau, Frau schlägt Tochter, Tochter schlägt Vater. Minderjährig waren 20 Leidtragende. Derer 17 Mal wurde eine leichtere Körperverletzung zur Anzeige gebracht, drei Mal eine schwere. Freiheitsberaubungen oder gar Sexualdelikte gab es keine – zumindest laut offizieller Zahlen. „Eine Dunkelziffer können wir nicht kommentieren“, sagt Polizeisprecher Stephan Klatte, „aber natürlich gibt es eine.“Taten sind da nur selten wirklich sichtbar. Werden klein geredet, falsche Fährten gelegt: Mal hat sich das „ungeschickte Kind“irgendwo gestoßen oder ist vielleicht gegen Türen, Wände, Schränke gerannt. Mal wird es nachts angeblich nur von Alpträumen terrorisiert. Woher diese denn nur rühren mögen? Nun, vielleicht hat’s ja heimlich Fernsehen geschaut...
Noch nie hat er dieses Kind lachen hören. „Ich glaube, niemand hat das – und das Schreien und Weinen ist gefühlt mehr und stärker geworden“, sagt er. Tagsüber sehe man die Familie ja kaum. Aber in der Nacht, wenn die Schreie das Gemüt rütteln, dann ... „Eigentlich kümmert es mich nicht, was in der Nachbarschaft geschieht, aber da muss man jetzt doch mal was tun!“ Je weiter sich die Menschen voneinander entfernen und weniger füreinander interessieren, desto seltener werden Übergriffe jedweder Art auf Schutzbefohlene offenkundig. Nicht jedes dauer- und problembehaftete Familienverhältnis wird angezeigt, nicht in jedem Fall kann die Polizei eingreifen. Auch die Zahl der sogenannten Selbstmelder – Minderjährige, die sich selbstständig an die Behörden wenden und um Hilfe bitten – ist gesunken. 32 der im vergangenen Jahr vorgenommenen 107 Inobhutnahmen durch die Stadt wurden erst durch derartige Bitten eingeleitet.
Im Dreijahresvergleich (2013 bis 2015) aber ist sowohl die Zahl der Inobhutnahmen wie auch der Selbstmeldungen um mehr als 16 Prozent zurückgegangen. Damit ist nicht automatisch alles gut. Denn die Zahl der Gefährdungsmeldungen ist im gleichen Zeitraum gestiegen.
All die Schreie. Jede Nacht. Schon vor Monaten habe er an das Jugendamt deshalb eine EMail geschickt mit der Bitte, sich zu kümmern, schreibt er nun an die Ð, „jedoch ohne sicht- beziehungsweise hörbaren Erfolg“. Das Leid des Kleinkinds beschäftige ihn fortwährend, ansprechen will er es vor den Nachbarn aber nicht. Denn: „Ich will keinen Stress.“
Dass sich die Stadt nicht gekümmert habe, weisen die verantwortlichen Stellen auf Ð -Nachfrage weit von sich. Im Gegenteil – man sei mit besagtem Fall betraut und betreue diesen wie auch die Verfahrensschritte entsprechend vertraulich. Auch wenn dies Außenstehenden nicht immer verständlich sein will. Nicht nur, aber auch in besagtem Fall sei der Allgemeine Sozialdienst den Hinweisen nachgegangen, das Gefährdungsrisiko
„im Zusammenwirken mehrer Fachkräfte“abgeschätzt worden. Dies laufe zwar nach vorgeschriebenen Verfahrensabläufen, trotzdem würde „jeder einzelne Fall auch als tatsächlicher Einzelfall“bewertet, sagt Sozialdezernentin Dagmar Sachse. „Wir nehmen jeden Hinweis sehr ernst.“
Das beruhige ihn zwar, mehr Ruhe findet er dadurch aber nicht. Neben der Sorge um das Kind quält schließlich noch die Gewissensfrage. „Würde ich mich nicht auf diesem Wege kümmern und dem Kind würde etwas Schlimmes geschehen – würde man mich dann nicht wegen unterlassener Hilfeleistung bestrafen?“
Auch das ist zwar Einzelfallabhängig, trotzdem sollte allein schon der gesunde Menschenverstand die Verantwortung übernehmen, wenn etwaige Straftaten vermutet werden. Dazu gehören nun mal Rohheits- oder Sexualdelikte, von Verwahrlosungen oder psychologischem Druck abgesehen. Deshalb hoffen sie im Jugendamt auch „auf den Mut der Bürger, Beobachtungen, die eine Kindeswohlgefährdung darstellen könnten“, zu melden. Und: „Werden akute Situationen direkt beobachtet, muss sofort die Polizei verständigt werden.“Die wiederum informiert das Jugendamt, sprich: Alle nötigen behördlichen Organe zur Hilfe Minderjähriger sind im Regelfall zeitnah beteiligt.
Allerdings führt nicht jeder Hinweis dazu, dass Kinder sogleich aus den Familien genommen werden. Denn in rund zwei Dritteln aller im vergangenen Jahr gemeldeten Fälle habe laut Jugendamt keine echte Gefährdung vorgelegen, maximal ein „Handlungsbedarf“bestanden. Auffällig: Selbstmelder erhielten in der Folge seltener Hilfen als Kinder, die von Ämtern als gefährdet eingestuft wurden – dies könne daran liegen, dass „Heranwachsende im Konflikt mit den Eltern die Meldung als Eskalationsmittel nutzen, ohne dass eine Gefährdung vorliegt“, wie es heißt. Unterm Strich und im Umkehrschluss aber gab’s in 2015 dennoch ein Drittel aller gemeldeten Fälle, in dem Kinder gefährdet waren. Und davon ist jeder einzelne Fall einer zu viel.
Inobhutnahmen in Einrichtungen oder familienähnlichen Unterbringungen sind jederzeit möglich, auch nachts. Sie können „zur emotionalen Stabilisierung und zur Entspannung der aktuellen Krisensituation“beitragen. Wenngleich sie nur das letzte Mittel des Jugendamtes sind, um eine dramatische Situation zu entschärfen.
Daher: Dass ein Kind nächtelang schreit, ist schlimm. Trotzdem, und ganz bestimmt auch abhängig von den Gründen, ist es aber manchmal gerade daheim besser aufgehoben. Fachleute – deren vorrangiges Ziel ist, dass Familienleben wieder gut und harmonisch funktioniert – stehen da im kontinuierlichen Austausch. Wichtig ist, dass Bürger mutig genug sind, mögliche Missstände zu melden.