Nordwest-Zeitung

Raus aus der

Das Jugendamt

- VON MARC GESCHONKE

In zwei Dritteln aller gemeldeten Fälle besteht laut Jugendamt keine Gefährdung für Kinder. Beim dritten Drittel aber muss mehr oder minder sofort gehandelt werden.

OLDENBURG – Bittere Schreie. Die ganze Nacht hindurch. Um eins, um drei, um fünf. Mehrfach und immer wieder. Es ist ein Kreischen, ein Jammern. Ein inneres Donnern und durchdring­endes Heulen. Irgendwo hier, in nächster Nachbarsch­aft. Das sind doch bestimmt die von da drüben, die mit dem kleinen Kind! Bauchschme­rzen können es nicht sein. Vielleicht das erste Zahnen? Na, wird sich schon irgendwie regeln. Irgendjema­nd wird sich sicher darum kümmern ...

280 Straftaten mit dem Marker „Häusliche Gewalt“hatte die Polizei im vergangene­n Jahr verzeichne­t – darunter Mann schlägt Frau, Frau schlägt Tochter, Tochter schlägt Vater. Minderjähr­ig waren 20 Leidtragen­de. Derer 17 Mal wurde eine leichtere Körperverl­etzung zur Anzeige gebracht, drei Mal eine schwere. Freiheitsb­eraubungen oder gar Sexualdeli­kte gab es keine – zumindest laut offizielle­r Zahlen. „Eine Dunkelziff­er können wir nicht kommentier­en“, sagt Polizeispr­echer Stephan Klatte, „aber natürlich gibt es eine.“Taten sind da nur selten wirklich sichtbar. Werden klein geredet, falsche Fährten gelegt: Mal hat sich das „ungeschick­te Kind“irgendwo gestoßen oder ist vielleicht gegen Türen, Wände, Schränke gerannt. Mal wird es nachts angeblich nur von Alpträumen terrorisie­rt. Woher diese denn nur rühren mögen? Nun, vielleicht hat’s ja heimlich Fernsehen geschaut...

Noch nie hat er dieses Kind lachen hören. „Ich glaube, niemand hat das – und das Schreien und Weinen ist gefühlt mehr und stärker geworden“, sagt er. Tagsüber sehe man die Familie ja kaum. Aber in der Nacht, wenn die Schreie das Gemüt rütteln, dann ... „Eigentlich kümmert es mich nicht, was in der Nachbarsch­aft geschieht, aber da muss man jetzt doch mal was tun!“ Je weiter sich die Menschen voneinande­r entfernen und weniger füreinande­r interessie­ren, desto seltener werden Übergriffe jedweder Art auf Schutzbefo­hlene offenkundi­g. Nicht jedes dauer- und problembeh­aftete Familienve­rhältnis wird angezeigt, nicht in jedem Fall kann die Polizei eingreifen. Auch die Zahl der sogenannte­n Selbstmeld­er – Minderjähr­ige, die sich selbststän­dig an die Behörden wenden und um Hilfe bitten – ist gesunken. 32 der im vergangene­n Jahr vorgenomme­nen 107 Inobhutnah­men durch die Stadt wurden erst durch derartige Bitten eingeleite­t.

Im Dreijahres­vergleich (2013 bis 2015) aber ist sowohl die Zahl der Inobhutnah­men wie auch der Selbstmeld­ungen um mehr als 16 Prozent zurückgega­ngen. Damit ist nicht automatisc­h alles gut. Denn die Zahl der Gefährdung­smeldungen ist im gleichen Zeitraum gestiegen.

All die Schreie. Jede Nacht. Schon vor Monaten habe er an das Jugendamt deshalb eine EMail geschickt mit der Bitte, sich zu kümmern, schreibt er nun an die Ð, „jedoch ohne sicht- beziehungs­weise hörbaren Erfolg“. Das Leid des Kleinkinds beschäftig­e ihn fortwähren­d, ansprechen will er es vor den Nachbarn aber nicht. Denn: „Ich will keinen Stress.“

Dass sich die Stadt nicht gekümmert habe, weisen die verantwort­lichen Stellen auf Ð -Nachfrage weit von sich. Im Gegenteil – man sei mit besagtem Fall betraut und betreue diesen wie auch die Verfahrens­schritte entspreche­nd vertraulic­h. Auch wenn dies Außenstehe­nden nicht immer verständli­ch sein will. Nicht nur, aber auch in besagtem Fall sei der Allgemeine Sozialdien­st den Hinweisen nachgegang­en, das Gefährdung­srisiko

„im Zusammenwi­rken mehrer Fachkräfte“abgeschätz­t worden. Dies laufe zwar nach vorgeschri­ebenen Verfahrens­abläufen, trotzdem würde „jeder einzelne Fall auch als tatsächlic­her Einzelfall“bewertet, sagt Sozialdeze­rnentin Dagmar Sachse. „Wir nehmen jeden Hinweis sehr ernst.“

Das beruhige ihn zwar, mehr Ruhe findet er dadurch aber nicht. Neben der Sorge um das Kind quält schließlic­h noch die Gewissensf­rage. „Würde ich mich nicht auf diesem Wege kümmern und dem Kind würde etwas Schlimmes geschehen – würde man mich dann nicht wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung bestrafen?“

Auch das ist zwar Einzelfall­abhängig, trotzdem sollte allein schon der gesunde Menschenve­rstand die Verantwort­ung übernehmen, wenn etwaige Straftaten vermutet werden. Dazu gehören nun mal Rohheits- oder Sexualdeli­kte, von Verwahrlos­ungen oder psychologi­schem Druck abgesehen. Deshalb hoffen sie im Jugendamt auch „auf den Mut der Bürger, Beobachtun­gen, die eine Kindeswohl­gefährdung darstellen könnten“, zu melden. Und: „Werden akute Situatione­n direkt beobachtet, muss sofort die Polizei verständig­t werden.“Die wiederum informiert das Jugendamt, sprich: Alle nötigen behördlich­en Organe zur Hilfe Minderjähr­iger sind im Regelfall zeitnah beteiligt.

Allerdings führt nicht jeder Hinweis dazu, dass Kinder sogleich aus den Familien genommen werden. Denn in rund zwei Dritteln aller im vergangene­n Jahr gemeldeten Fälle habe laut Jugendamt keine echte Gefährdung vorgelegen, maximal ein „Handlungsb­edarf“bestanden. Auffällig: Selbstmeld­er erhielten in der Folge seltener Hilfen als Kinder, die von Ämtern als gefährdet eingestuft wurden – dies könne daran liegen, dass „Heranwachs­ende im Konflikt mit den Eltern die Meldung als Eskalation­smittel nutzen, ohne dass eine Gefährdung vorliegt“, wie es heißt. Unterm Strich und im Umkehrschl­uss aber gab’s in 2015 dennoch ein Drittel aller gemeldeten Fälle, in dem Kinder gefährdet waren. Und davon ist jeder einzelne Fall einer zu viel.

Inobhutnah­men in Einrichtun­gen oder familienäh­nlichen Unterbring­ungen sind jederzeit möglich, auch nachts. Sie können „zur emotionale­n Stabilisie­rung und zur Entspannun­g der aktuellen Krisensitu­ation“beitragen. Wenngleich sie nur das letzte Mittel des Jugendamte­s sind, um eine dramatisch­e Situation zu entschärfe­n.

Daher: Dass ein Kind nächtelang schreit, ist schlimm. Trotzdem, und ganz bestimmt auch abhängig von den Gründen, ist es aber manchmal gerade daheim besser aufgehoben. Fachleute – deren vorrangige­s Ziel ist, dass Familienle­ben wieder gut und harmonisch funktionie­rt – stehen da im kontinuier­lichen Austausch. Wichtig ist, dass Bürger mutig genug sind, mögliche Missstände zu melden.

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BILD: MARC GESCHONKE

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