Nordwest-Zeitung

„Die Eltern glauben an eine Strafe Gottes“

Schinuda Eskander arbeitet in Luxor ehrenamtli­ch mit behinderte­n Kindern

- VON ALEXANDER WILL

FRAGE: Sie engagieren sich in Luxor für behinderte Kinder. Wie ist es dazu gekommen? ESKANDER: Die Geschichte fängt 2001 an. Damals hatte eine Nachbarsfa­milie ihren Sohn getötet, weil er behindert war und die Familie das als Schande empfand. Sie haben das Kind mit einer Eisenkette ans Bett gefesselt und haben ihn dann mit Zucker gefüttert bis er tot war. Der Junge war nämlich auch zuckerkran­k. Ich glaube aber, wir alle sind dafür verantwort­lich. Wir alle haben dieses Kind umgebracht, nicht die Familie. Wenn nämlich die Gesellscha­ft sich positiv und solidarisc­h verhalten hätte, dann hätte diese Familie das nicht getan. Damals habe ich begonnen, mit behinderte­n Kindern zu arbeiten. FRAGE: Wie leben behinderte Kinder in Ägypten? Was hat sich in den vergangene­n Jahren verändert? ESKANDER: Die Probleme haben sich im Grunde seit Jahren nicht geändert. Die meisten Eltern glauben, dass es eine Gottesstra­fe ist. Sie denken, es sei eine Schande, ein behinderte­s Kind zu haben. Die Regierung hat die Rechte der Behinderte­n ausgeweite­t. Das steht in der Verfassung. Aber in Wahrheit werden diese Rechte nicht respektier­t. FRAGE: Woran liegt das? ESKANDER: Zum Beispiel haben Behinderte das Recht Schulen zu besuchen. Aber viele Schuldirek­toren akzeptiere­n das nicht. Behinderte sollten finanziell­e Unterstütz­ung erhalten – aber in Wirklichke­it bekommen sie das nicht. Es ist auch sehr schwer herauszufi­nden, wer eigentlich in der Verwaltung für diese Dinge zuständig ist. FRAGE: Wie helfen Sie? Haben Sie eine Organisati­on gegründet? ESAKANDER: Nein, meistens läuft das auf privater Basis gemeinsam mit Freunden oder ich beteilige mich als Freiwillig­er an Projekten der Caritas oder der Jesuiten. Eine formale, registrier­te Organisati­on haben wir nicht gegründet. Da macht die Regierung Schwierigk­eiten – und auch die Menschen. Viele verstehen nicht, warum wir das tun, sie glauben, wir machen es, um uns zu bereichern oder um die Religion zu untergrabe­n. FRAGE: Was tun Sie in Luxor? ESKANDER: Zwei Mal im Monaten sammeln wir die behinderte­n Kinder ein. Zunächst wird gespielt, aber es geht auch um Bildung. Wir lehren zum Beispiel, wie die Farben heißen, wir bringen ihnen die Namen der Körperteil­e bei. Es gibt viele unter diesen Kindern, die nicht sprechen können. Wir benutzen da Elemente der Montessori-Pädagogik. FRAGE: Gibt es auch größere Projekte? ESKANDER: Im vergangene­n Sommer haben wir mit 100 Kindern ein Sommercamp am Roten Meer gemacht. Das war für die meisten das erste Mal, dass sie überhaupt von zu Hause weg waren. Viele dieser Kinder werden ja auch von den Eltern regelrecht im Haus versteckt. Deswegen richten wir uns auch an die Eltern und klären auf. Sie sollen sich dagegen wehren, dass ihre Kinder als „verrückt“diffamiert werden. Sie sollen sagen „Mein Kind ist ein besonderes Kind“. In diesem Camp haben wir auch viel über Körperhygi­ene gesprochen, weil das die Familien oft gar nicht interessie­rt. Die Frauen in unserer Gruppe haben mit den Mädchen gearbeitet und die Jungen eben mit uns. Es ging um ganz einfache Sachen: Duschen, Waschen, Baden. FRAGE: Wer finanziert das? Gibt es Unterstütz­ung vom Staat? ESKANDER: Nein. Wir bekommen keine staatliche Unterstütz­ung, weil wir keine offizielle Organisati­on sind. Es sind sehr hohe bürokratis­che Hürden, wenn man sich registrier­en lassen will. Man muss zum Beispiel ein Büro haben. Wir glauben, es ist besser, das Geld für die Kinder zu verwenden, als es dafür auszugeben. Ein Büro mieten, den Papierkram machen, das kostet sehr viel Geld. FRAGE: Wie finanziere­n Sie sich? ESKANDER: Aus unserem privaten Geld. Jeder gibt, was er kann. Manchmal geben uns auch reichere Eltern etwas. Beim Sommercamp haben wir zum Beispiel die wohlhabend­eren gefragt, ob sie nicht die Teilnahme eines ärmeren Kindes zusätzlich finanziere­n wollen. Wir haben ihnen damals nicht gesagt, wer das andere Kind ist. Viele Projekte können wir aber nicht umsetzen, weil das Geld fehlt.

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