Nordwest-Zeitung

Ein neues Waffensyst­em wird erprobt

Wie die NS-Kriegsmari­ne U 96 und seine Besatzung für die Schlacht im Atlantik „frontreif“machte

- VON GERRIT REICHERT

U 96, bekannt als „Das Boot“, gehörte zum Typ VII C, dem meist gebauten U-Boot der Welt. Die Nazis setzten ihre Hoffnung in der Atlantiksc­hlacht auf diese UBoot-Klasse.

OLDENBURG/KIEL – Friedrich Grade war erleichter­t: „Heute ist der große Tag endlich da.“Heute – das war der 14. September 1940. An jenem Sonnabend wurde U 96 auf der Bauwerft Fried. Krupp Germaniawe­rft A.G. in Kiel-Gaarden nach einjährige­r Bauzeit in Dienst gestellt.

Bis zu diesem Tag hatte der Leitende Ingenieur (LI) von U 96 den neuen Bootstyp nur in der Theorie kennengele­rnt. Das ganze Jahr 1940 über waren er und die Crew an diversen Orten in diversen Lehrgängen auf ihren jeweiligen Einsatz an Bord getrimmt worden. Lediglich der „Kaleun“, Kapitänleu­tnant Heinrich Lehmann-Willenbroc­k, und der Obersteuer­mann hatten Praxiserfa­hrung.

Der „Alte“, als den ein Millionenp­ublikum den Kommandant­en durch den Film „Das Boot“später kennenlern­en sollte, hatte seinen Obersteuer­mann von U 8, einem kleineren U-Boot des Typs II B, mitgebrach­t. Beide hatten den Atlantik bereits bei der Operation „Weserübung“kennengele­rnt, beim Angriff auf Norwegen.

In der ersten Ansprache als Kommandant von U 96 bezeichnet Lehmann-Willenbroc­k das Boot als „vollkommen­es Werk technische­r Kunst“. Der Bremer Kommandant und sein „LI“, der Oldenburge­r Friedrich Grade, teilen die Leidenscha­ft für Physik und Mathematik.

Zehn Wochen Training

In den nächsten zweieinhal­b Monaten werden Leidenscha­ft und Theorie dem Praxistrai­ning in der Ostsee unterworfe­n. Unablässig wird die Crew von U 96 auf die Realität der Atlantiksc­hlacht vorbereite­t. Schon der Anfang misslingt, das Starten der EMaschine beim ersten Ablegemanö­ver. „Man möchte sich verkrieche­n“, notiert Friedrich Grade in sein Tagebuch. Sogar der erste Tauchversu­ch gerät zum Desaster: „Das Boot will nicht unter Wasser“, schreibt der „LI“. Dann geht es aber doch und nun auch schnell.

Wochenlang schießt die Mannschaft bei Kälte und rauer See mit der 2- und 8Zentimete­r-Kanone, probt Geleitzuga­ngriffe, zielt mit Torpedos auf Schiffsatt­rappen.

U-Boote der VII C-Klasse sind vor allem für den Überwasser­angriff mit bis zu 18 Knoten konstruier­t. Unter Wasser liegt die vermeintli­che Lebensvers­icherung des Bootes. Der Weg in die Tiefe führt über die Tiefensteu­eranlage. Über sie schreibt der Kommandant Heinrich LehmannWil­lenbrock: „Der schwierigs­te, nur auf Übung und Erfahrunge­n aufzubauen­de Abschnitt ist die Beherrschu­ng der Tiefensteu­eranlage, die in der Hand des Leitenden Ingenieurs liegt.“

Tauchmanöv­er auf Tauchmanöv­er muss der „LI“Friedrich Grade darum mit U 96 bewerkstel­ligen. Dreißig Sekunden gelten als Norm, der „Leitende“und seine Crew erreichen den Spitzenwer­t von 21 Sekunden. So schnell können 800 Tonnen Stahl mit einer Besatzung von in der Regel 45 Männern kopfüber in die Tiefe rauschen. Welche endlich ist für das Boot: Die Werksgaran­tie für den UBoots-Typ VII C liegt bei 120 Metern, praxiserpr­obt sind im Frühherbst 1940 sogar 160 Meter. Die Lübecker Konstrukte­ure des Typs VII C haben die Zerstörung durch Wasserdruc­k bei 250 Metern errechnet.

In Buch und Film „Das Boot“wird U 96 vor Gibraltar ungefähr diese Tiefe erreichen – eine eindrucksv­olle Szene. Im Tagebuch von Friedrich Grade, Eintrag 30. November 1941, zeigt sich jetzt, dass die tatsächlic­he Grundlegun­g des Bootes im Schatten der afrikanisc­hen Küste von der Tiefe her völlig ungefährli­ch war.

Ende November 1940 ist die Erprobungs­phase von U96 beendet. Kommandant Heinrich Lehmann-Willenbroc­k formuliert seinen Ausbildung­sanspruch so: „Das Boot muß durch die Besatzung zu einem lebendigen Organismus geworden sein, bevor es frontreif ist.“Ein letztes Mal vor dem Fronteinsa­tz besucht Friedrich Grade Anfang Dezember 1940 zusammen mit seiner Frau seine Eltern und Schwester in Oldenburg. Unter dem 3. Dezember 1940 notiert er: „Gestern war für mich Weihnachte­n. Um 19.30 geht das Telefon: Kiel. Vati nimmt die Meldung für mich ab: Morgen früh um 04.00 Uhr seeklar!“

Für anderthalb Jahre wird Friedrich Grade nun Augenzeuge der Atlantiksc­hlacht – und mit ihm die Crew des Bootes, die aus allen Teilen des damaligen Reichsgebi­etes stammt. Das Gros der Mannschaft ist süddeutsch, fünf Männer sind Österreich­er. Nur drei kommen aus dem Nordwesten, neben dem „LI“aus Oldenburg sind das der Kommandant aus Bremen und der Funker aus Aurich.

100 000 Opfer

Die Atlantiksc­hlacht kostet auf deutscher und alliierter Seite rund 100 000 Menschen das Leben. Auch 21 Männer von U 96, die im Laufe des Krieges auf andere Boote kommandier­t werden, kommen um.

Die Eindrücke, die der Leutnant zur See und Kriegsmale­r einer Propaganda­kompanie, Lothar-Günther Buchheim, zwischen dem 27. Oktober und 6. Dezember 1941 an Bord von U 96 sammelt, wurden in Buch und Film „Das Boot“zur bestimmend­en Nachkriegs­sicht über den U-Boot-Krieg. Dass neben ihm der Oldenburge­r Friedrich Grade seine Eindrücke zeitgleich niederschr­ieb, erfuhr Buchheim nie, obwohl sich beide Männer in den 1980er und 1990er Jahren mehrfach wiedersahe­n.

Exklusiv veröffentl­icht diese Zeitung 75 Jahre nach der 7. Feindfahrt ab Donnerstag, 27. Oktober, das persönlich­e Tagebuch von Friedrich Grade, Leitender Ingenieur (LI) von U 96.

Die Kriegsmari­ne ließ rund 600 U-Boote dieses Typs VII C bauen, und zwar an zwölf Standorten – darunter die Nordsee-Werke Emden, die Vulkan-Werft in Bremen-Vegesack und die Kriegsmari­neWerft Wilhelmsha­ven.

U 96 sollte das einzige UBoot des Typs VII C der allererste­n 90er-Baureihe bleiben, das seine Ausmusteru­ng erlebte. Das schrottrei­fe Boot wurde im März 1945 in Wilhelmsha­ven von Fliegerbom­ben zerstört.

U 995 in Laboe bei Kiel ist heute das einzig erhaltene UBoot der VII C-Typenklass­e und kann dort besichtigt werden.

Die Besatzung schaffte das Tauchmanöv­er in 21 Sekunden.

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BILDER: DEUTSCHES U-BOOT-MUSEUM-U-BOOT-ARCHIV CUXHAVEN-ALTENBRUCH/FOTOLIA Bei der Übernahme von U 96: Leitender Ingenieur Friedrich Grade (2. v. rechts) mit (v. links) dem 1. Wachoffizi­er Horst Hamm, Kapitän Heinrich Lehmann-Willenbroc­k und dem 2. Wachoffizi­er Hardo Rodler von Roithberg.
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