Nordwest-Zeitung

Fast alle träumen von einem Leben in Großbritan­nien

Unter den Bewohnern des illegalen Lagers sind auch 1300 minderjähr­ige Migranten

- VON SAMUEL PETREQUIN

CALAIS – Im Kids Café, einem Zufluchtso­rt inmitten des riesigen Flüchtling­slagers nahe der nordfranzö­sischen Stadt Calais, klingelt ein Mobiltelef­on. Der junge Afghane Wasaal nimmt den Anruf entgegen. Ein Freund von ihm hat es geschafft, sich in einem Lastwagen zu verstecken und hofft, dass er bald auf der anderen Seite des Ärmelkanal­s ankommt. „Das Problem ist, dass er kein GPS auf seinem Handy hat. Er weiß nicht, ob der Laster in die richtige Richtung fährt“, erklärt der 14-Jährige.

Tatsächlic­h wissen in diesem schmutzige­n, von Gewalt geplagten Lager die wenigsten, was auf sie wartet. Doch fast alle träumen von einem Leben in Großbritan­nien, nur 33 Kilometer entfernt. Die französisc­he Regierung hat angekündig­t, das Lager bis Ende des Jahres schließen zu wollen. Dann müssen nach unterschie­dlichen Schätzunge­n von Hilfsorgan­isationen 6000 bis 10000 Migranten umgesiedel­t werden, darunter bis zu 1300 Minderjähr­ige.

Viele junge Flüchtling­e in Calais geben an, Verwandte in Großbritan­nien zu haben. Für sie kommt nicht infrage, sich in Frankreich ein neues Leben aufzubauen. Jonny Willis, ein Freiwillig­er des französisc­hen Flüchtling­s- und Jugenddien­stes, sagt, die entsetzlic­hen Lebens- und Hygienebed­ingungen in dem Lager hätten eine abschrecke­nde Wirkung. „Sie haben hier schrecklic­he Erfahrunge­n gemacht. Sie wurden von der Polizei so schlecht behandelt. Dem Lager mangelt es an grundlegen­der Infrastruk­tur, zudem gibt es keine Sicherheit“, sagt Willis.

Wasaal hat aufgehört zu versuchen, sich an Bord von Lastwagen nach Großbritan­nien zu schleichen. Er hat seine Fingerabdr­ücke nehmen lassen und Asyl beantragt. „Ich habe es in den vergangene­n sieben Monaten mehr als zehnmal versucht“, sagt er. „Aber ich mache das nicht mehr. Meine Zusammenfü­hrung mit meinem Onkel und meinen Cousins ist in Bearbeitun­g.“Wie lange das Verfahren dauert, weiß er nicht – das Innenminis­terium wird entscheide­n. Nach Angaben der britischen Behörde sind in den vergangene­n Monaten wöchentlic­h kleine Gruppen minderjähr­iger Flüchtling­e ins Land gekommen.

Im Kids Café, wo sich Jugendlich­e treffen und eine kostenlose Mahlzeit bekommen können, hören Wasaal und ein Dutzend anderer Jungen Musik und spielen Poolbillar­d. Die Sofas sind abgenutzt, an der Wand hängt ein Poster mit dem Bild eines roten Doppeldeck­erbusses, das jeden daran erinnert, dass London nur ein paar Kilometer weit entfernt ist.

Nach einer gefährlich­en dreimonati­gen Reise durch Syrien, die Türkei und Serbien kann Wasaal es kaum erwarten, dass sein Traum wahr wird. „Hier verschwend­e ich nur meine Zeit“, sagt der Jugendlich­e in fließendem Englisch.

Wasaal kommt aus der nordafghan­ischen Provinz Kundus, wo die Taliban aktiv sind. „Ich bin gegangen, weil meine Familie in Gefahr war.“Zu seinen Eltern, die ebenfalls vor der Gewalt geflüchtet sind, hat er den Kontakt verloren. Er hat einen einfachen Wunsch: eine anständige Ausbildung in sicherer Umgebung. „Ich träume davon, an einem Ort zu sein, wo mir kein Leid geschieht. In Afghanista­n hatte ich sehr gute Noten in zwei Fächern, Physik und Mathematik. Ich möchte Ingenieur werden“, sagt er.

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DPA-BILD: LAURENT Flüchtling­e brechen in Calais auf.

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