Fast alle träumen von einem Leben in Großbritannien
Unter den Bewohnern des illegalen Lagers sind auch 1300 minderjährige Migranten
CALAIS – Im Kids Café, einem Zufluchtsort inmitten des riesigen Flüchtlingslagers nahe der nordfranzösischen Stadt Calais, klingelt ein Mobiltelefon. Der junge Afghane Wasaal nimmt den Anruf entgegen. Ein Freund von ihm hat es geschafft, sich in einem Lastwagen zu verstecken und hofft, dass er bald auf der anderen Seite des Ärmelkanals ankommt. „Das Problem ist, dass er kein GPS auf seinem Handy hat. Er weiß nicht, ob der Laster in die richtige Richtung fährt“, erklärt der 14-Jährige.
Tatsächlich wissen in diesem schmutzigen, von Gewalt geplagten Lager die wenigsten, was auf sie wartet. Doch fast alle träumen von einem Leben in Großbritannien, nur 33 Kilometer entfernt. Die französische Regierung hat angekündigt, das Lager bis Ende des Jahres schließen zu wollen. Dann müssen nach unterschiedlichen Schätzungen von Hilfsorganisationen 6000 bis 10000 Migranten umgesiedelt werden, darunter bis zu 1300 Minderjährige.
Viele junge Flüchtlinge in Calais geben an, Verwandte in Großbritannien zu haben. Für sie kommt nicht infrage, sich in Frankreich ein neues Leben aufzubauen. Jonny Willis, ein Freiwilliger des französischen Flüchtlings- und Jugenddienstes, sagt, die entsetzlichen Lebens- und Hygienebedingungen in dem Lager hätten eine abschreckende Wirkung. „Sie haben hier schreckliche Erfahrungen gemacht. Sie wurden von der Polizei so schlecht behandelt. Dem Lager mangelt es an grundlegender Infrastruktur, zudem gibt es keine Sicherheit“, sagt Willis.
Wasaal hat aufgehört zu versuchen, sich an Bord von Lastwagen nach Großbritannien zu schleichen. Er hat seine Fingerabdrücke nehmen lassen und Asyl beantragt. „Ich habe es in den vergangenen sieben Monaten mehr als zehnmal versucht“, sagt er. „Aber ich mache das nicht mehr. Meine Zusammenführung mit meinem Onkel und meinen Cousins ist in Bearbeitung.“Wie lange das Verfahren dauert, weiß er nicht – das Innenministerium wird entscheiden. Nach Angaben der britischen Behörde sind in den vergangenen Monaten wöchentlich kleine Gruppen minderjähriger Flüchtlinge ins Land gekommen.
Im Kids Café, wo sich Jugendliche treffen und eine kostenlose Mahlzeit bekommen können, hören Wasaal und ein Dutzend anderer Jungen Musik und spielen Poolbillard. Die Sofas sind abgenutzt, an der Wand hängt ein Poster mit dem Bild eines roten Doppeldeckerbusses, das jeden daran erinnert, dass London nur ein paar Kilometer weit entfernt ist.
Nach einer gefährlichen dreimonatigen Reise durch Syrien, die Türkei und Serbien kann Wasaal es kaum erwarten, dass sein Traum wahr wird. „Hier verschwende ich nur meine Zeit“, sagt der Jugendliche in fließendem Englisch.
Wasaal kommt aus der nordafghanischen Provinz Kundus, wo die Taliban aktiv sind. „Ich bin gegangen, weil meine Familie in Gefahr war.“Zu seinen Eltern, die ebenfalls vor der Gewalt geflüchtet sind, hat er den Kontakt verloren. Er hat einen einfachen Wunsch: eine anständige Ausbildung in sicherer Umgebung. „Ich träume davon, an einem Ort zu sein, wo mir kein Leid geschieht. In Afghanistan hatte ich sehr gute Noten in zwei Fächern, Physik und Mathematik. Ich möchte Ingenieur werden“, sagt er.