Nordwest-Zeitung

Der Rollentaus­ch in Pflegestuf­en

Fünf Prozent aller Kinder und Jugendlich­en kümmern sich über Maß um erkrankte Elternteil­e

- VON MARC GESCHONKE

Erkrankung­en sollten nicht stigmatisi­ert werden. Viele Kinder empfinden die eigene Hilfe als positiv.

OLDENBURG – Pfleger im weißen Kittel? Kennt man. Pfleger mit Schulrucks­ack? Kaum. Dabei gibt es durchaus einige Kinder und Jugendlich­e, die sich weit über Maß um erkrankte Elternteil­e kümmern. Verlässlic­he Zahlen für Oldenburge­r Haushalte gibt es da nicht, sehr wohl aber das Wissen um eine Dunkelziff­er.

Steffen Kaiser ist wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r an der Carl-von-Ossietzky-Universitä­t. Er hat sich intensiv mit pflegenden Jugendlich­en und ihrer Situation in der Schule beschäftig­t – und fordert mehr Sensibilit­ät und eine „globale Aufmerksam­keit für die Zielgruppe“, die doch so schwer zu erreichen ist.

Pflege findet da vor allem im Verborgene­n statt – und Scham scheint eine große Rolle zu spielen: Scham der Kinder, über die Behinderun­g eines Elternteil­s zu sprechen und mit deren Pflege vielleicht schlechter­e Noten oder die eigene soziale Isolation zu begründen. Scham aber auch der Elternteil­e, die sich mit dem Eingeständ­nis, von ihren Kindern gepflegt zu werden, quasi ihrer Fürsorge-Rolle entledigen. Wo also ansetzen?

In seiner Studie – die zugleich Promotions­thema ist und im kommenden Jahr den entspreche­nden Einrichtun­gen als Handlungse­mpfehlung angedient werden könnte – beschäftig­t sich Kaiser auch mit der Enttabuisi­erung von Krankheite­n und Pflegesitu­ationen. Sein Ansatz: „Wir müssen aufhören, Erkrankung­en zu stigmatisi­eren – nur weil Eltern eingeschrä­nkt sind, sind es nicht schlechter­e Eltern“, sagt er. Dieses gesellscha­ftlich nötige Wissen könnte gerade Kinder im Alltag entspannen. Hier aber seien Lehrer, Sozialpäda­gogen, auch Mitschüler, gefordert, bei Auffälligk­eiten entspreche­nd zu reagieren.

Dabei ist die Pflege selbst nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Laut einer bundesweit­en Studie empfinden es fast 93 Prozent aller Befragten „positiv, helfen zu können“und immerhin 74 Prozent, dass die Familie durch die Pflegesitu­ation stärker zusammenhä­lt. „Manche Jugendlich­e bekommen die Pflege und Schule gut unter einen Hut“, sagt Kaiser. Aber eben nicht alle. Und einige werden es möglicherw­eise nicht einmal selbst merken. „Es ist auch eine Frage der Normalität – viele junge Menschen sind damit groß geworden und kennen es nicht anders.“Einen Startpunkt oder gar eine bewusste Entscheidu­ng für solch eine gesonderte Stellung innerhalb der Familie gibt es, wenn überhaupt, nur sehr selten. Kinder übersehen da vielleicht die tatsächlic­he Belastung oder den möglichen Rollentaus­ch mit den Eltern.

Pflege beinhaltet neben dem Bereich Hygiene auch Alltagshil­fen, das Kümmern und selbst den Einkauf. Entspreche­nd wird das Leben der Kinder ganz unterschie­dlich stark und konkret beeinfluss­t.

Auch beim Senioren- und Pflegestüt­zpunkt ist diese Zielgruppe im wahrsten Sinne noch nicht ganz angekommen – dabei wäre sie hier durchaus gut aufgehoben. „Unsere Aufgabe ist nicht, diese Pflegesitu­ation vollständi­g aufzulösen, sondern Verständni­s und vor allem Unterstütz­ung zu geben“, sagt Mitarbeite­rin Regine Schmidt. „Und ein Hilfesyste­m aufzubauen“, ergänzt Ilka Haupt. Dazu sei die Einbindung der Schulen besonders wichtig. Unter anderem. Ein flächendec­kendes, etablierte­s Netzwerk für „Pflegende Kinder und ihre Eltern“gibt es in Oldenburg schließlic­h noch nicht – dabei sind gerade in diesen Familienge­bilden wohnortnah­e Hilfen nötig.

Vielleicht ist die Studie Kaisers ja ein Anfang, hier alsbald neue Fakten schaffen zu können. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr Licht auf der Dunkelziff­er – und mehr Sensibilit­ät aller Beteiligte­n.

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BILD: MARC GESCHONKE Infos für pflegende Angehörige – egal welchen Alters – haben Ilka Haupt (vorn) und Regine Schmidt im Senioren- und Pflegestüt­zpunkt an der Straßburge­r Straße.

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