Der Rollentausch in Pflegestufen
Fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen kümmern sich über Maß um erkrankte Elternteile
Erkrankungen sollten nicht stigmatisiert werden. Viele Kinder empfinden die eigene Hilfe als positiv.
OLDENBURG – Pfleger im weißen Kittel? Kennt man. Pfleger mit Schulrucksack? Kaum. Dabei gibt es durchaus einige Kinder und Jugendliche, die sich weit über Maß um erkrankte Elternteile kümmern. Verlässliche Zahlen für Oldenburger Haushalte gibt es da nicht, sehr wohl aber das Wissen um eine Dunkelziffer.
Steffen Kaiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Carl-von-Ossietzky-Universität. Er hat sich intensiv mit pflegenden Jugendlichen und ihrer Situation in der Schule beschäftigt – und fordert mehr Sensibilität und eine „globale Aufmerksamkeit für die Zielgruppe“, die doch so schwer zu erreichen ist.
Pflege findet da vor allem im Verborgenen statt – und Scham scheint eine große Rolle zu spielen: Scham der Kinder, über die Behinderung eines Elternteils zu sprechen und mit deren Pflege vielleicht schlechtere Noten oder die eigene soziale Isolation zu begründen. Scham aber auch der Elternteile, die sich mit dem Eingeständnis, von ihren Kindern gepflegt zu werden, quasi ihrer Fürsorge-Rolle entledigen. Wo also ansetzen?
In seiner Studie – die zugleich Promotionsthema ist und im kommenden Jahr den entsprechenden Einrichtungen als Handlungsempfehlung angedient werden könnte – beschäftigt sich Kaiser auch mit der Enttabuisierung von Krankheiten und Pflegesituationen. Sein Ansatz: „Wir müssen aufhören, Erkrankungen zu stigmatisieren – nur weil Eltern eingeschränkt sind, sind es nicht schlechtere Eltern“, sagt er. Dieses gesellschaftlich nötige Wissen könnte gerade Kinder im Alltag entspannen. Hier aber seien Lehrer, Sozialpädagogen, auch Mitschüler, gefordert, bei Auffälligkeiten entsprechend zu reagieren.
Dabei ist die Pflege selbst nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Laut einer bundesweiten Studie empfinden es fast 93 Prozent aller Befragten „positiv, helfen zu können“und immerhin 74 Prozent, dass die Familie durch die Pflegesituation stärker zusammenhält. „Manche Jugendliche bekommen die Pflege und Schule gut unter einen Hut“, sagt Kaiser. Aber eben nicht alle. Und einige werden es möglicherweise nicht einmal selbst merken. „Es ist auch eine Frage der Normalität – viele junge Menschen sind damit groß geworden und kennen es nicht anders.“Einen Startpunkt oder gar eine bewusste Entscheidung für solch eine gesonderte Stellung innerhalb der Familie gibt es, wenn überhaupt, nur sehr selten. Kinder übersehen da vielleicht die tatsächliche Belastung oder den möglichen Rollentausch mit den Eltern.
Pflege beinhaltet neben dem Bereich Hygiene auch Alltagshilfen, das Kümmern und selbst den Einkauf. Entsprechend wird das Leben der Kinder ganz unterschiedlich stark und konkret beeinflusst.
Auch beim Senioren- und Pflegestützpunkt ist diese Zielgruppe im wahrsten Sinne noch nicht ganz angekommen – dabei wäre sie hier durchaus gut aufgehoben. „Unsere Aufgabe ist nicht, diese Pflegesituation vollständig aufzulösen, sondern Verständnis und vor allem Unterstützung zu geben“, sagt Mitarbeiterin Regine Schmidt. „Und ein Hilfesystem aufzubauen“, ergänzt Ilka Haupt. Dazu sei die Einbindung der Schulen besonders wichtig. Unter anderem. Ein flächendeckendes, etabliertes Netzwerk für „Pflegende Kinder und ihre Eltern“gibt es in Oldenburg schließlich noch nicht – dabei sind gerade in diesen Familiengebilden wohnortnahe Hilfen nötig.
Vielleicht ist die Studie Kaisers ja ein Anfang, hier alsbald neue Fakten schaffen zu können. Dazu braucht es aber auch deutlich mehr Licht auf der Dunkelziffer – und mehr Sensibilität aller Beteiligten.