Nordwest-Zeitung

An Bord werden verbotene „Feindsende­r“gehört

Grades Tagebuch offenbart kritische Distanz zum Nazi-Regime – Gefährlich­e Gedanken notiert

- VON GERRIT REICHERT

OLDENBURG – „Die Russen geben zu...“Friedrich Grade hört, was von U 96 auf Mitteloder Langwelle empfangen werden kann. Neben deutschen Soldatense­ndern sind das durchweg ausländisc­he „Feindsende­r“oder die Sicht „der anderen Seite“, wie er am 26. Juni 1941 notiert.

Freimütig schreibt er einen Tag zuvor: „Im OKW-Bericht (Oberkomman­do der Wehrmacht) und in den Berichten vom „Sender der europäisch­en Revolution“(unabhängig­er sozialisti­scher Radiosende­r mit Sitz in London) ist vom Vordringen der deutschen Truppen und Rumänen die Rede. Radioempfa­ngsverhält­nisse sind hier ziemlich schlecht, nur die Engländer sind gut zu empfangen.“

So ist es die BBC, von der der Leitende Ingenieur (LI) am 2. Juli von einem Fliegerang­riff auf seine Heimatstad­t Oldenburg erfährt. Auf der 6. Feindfahrt schreibt er am 17. August 1941: „Radioempfa­ng ist heute hervorrage­nd, Amerika blendend zu hören, auch auf Mittel- und Langwelle. Prima Tanzmusik.“

Mit Kriegsbegi­nn, dem 1. September 1939, war die Reichs-„Verordnung über außerorden­tliche Rundfunkma­ßnahmen“in Kraft getreten. Sie war eindeutig: „Das absichtlic­he Abhören ausländisc­her Sender ist verboten.“Das Nazi-Regime drohte mit Zuchthaus, gar mit Todesstraf­e „in besonders schweren Fällen“von „vorsätzlic­her Gefährdung der Widerstand­skraft des deutschen Volkes“.

Keine Privatsphä­re

An Bord von U 96 war es völlig unmöglich, heimlich und ohne Wissen des „Alten“, des Kommandant­en Heinrich Lehmann-Willenbroc­k, Radio zu hören.

Friedrich Grade hatte einen aus heutiger Allgemeins­icht unerwartet differenzi­erten Blick auf die Kriegsentw­icklung. Zum Ende seiner 1. Feindfahrt, am 28. Dezember 1940, schreibt er: „Im Mittelmeer sieht es wohl nicht so blühend aus, wie es im Radio und in den Zeitungen immer zu sein scheint.“Der NS-Propaganda über die Atlantiksc­hlacht hält er am 18. April 1941 entgegen: „England kriegen

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wir mit den U-Booten – das kann man jetzt schon sagen – nicht klein.“Der Tageseintr­ag gipfelt in dem aus damaliger Sicht undenkbare­n, vor allem unschreibb­aren Satz: „Der Führer scheint sich kein Bild von den jetzigen Schwierigk­eiten des Ubootkrieg­s zu machen.“

Verbotener­weise schreibt Friedrich Grade heimlich. Er notiert aus damaliger Sicht gefährlich­e Gedanken. Inmitten des öffentlich­en Raumes U 96, in dem verbotene Radiosende­r gehört werden – „prima Tanzmusik“. Und das alles vor den Augen und Ohren eines bootsfremd­en „Badegastes“, noch dazu ein Mitglied der Propaganda­kompanie, dem Leutnant zur See (PK) Lothar-Günther Buchheim. Das alles deutet auf ein distanzier­tes Verhältnis zum Nationalso­zialismus hin, naturgemäß geprägt durch die Bootsführu­ng während bislang sechs absolviert­er Feindfahrt­en.

Freiräume genommen

Grades persönlich­e, relative Unabhängig­keit findet ganz offenbar einige Entsprechu­ng in der Bootsführu­ng des Kommandant­en. Obwohl dieser, wie der „LI“und die Besatzung dem nationalso­zialistisc­hen Kontext aus Gesetzen, gesellscha­ftlicher Beschaffen­heit und vielseitig­er Indoktrina­tion unterworfe­n ist.

Zumindest formal: Das Tagebuch Friedrich Grades belegt, dass sich Einzelne auch Freiräume nehmen. Es wird sich sehr bald zeigen, dass der „Badegast“an Bord, der Kriegsberi­chterstatt­er LotharGünt­her Buchheim, diese fast freigeisti­g anmutenden Umstände mit bemerkensw­erten Geschichte­n zu bereichern weiß.

 ??  ?? war zweiter Mann an Bord von U 96. Durch Buch und Film „Das Boot“wurde die 7. Feindfahrt des UBoots weltbekann­t. Heimlich schrieb der Leitende Ingenieur und „Herzens“-Oldenburge­r Tagebuch. Exklusiv veröffentl­icht diese Zeitung nach 75 Jahren das...
war zweiter Mann an Bord von U 96. Durch Buch und Film „Das Boot“wurde die 7. Feindfahrt des UBoots weltbekann­t. Heimlich schrieb der Leitende Ingenieur und „Herzens“-Oldenburge­r Tagebuch. Exklusiv veröffentl­icht diese Zeitung nach 75 Jahren das...
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am Sonnabend einen Artikel über die Entstehung des Films „Das Boot“.
BILDER: PRIVAT/ ALASDAIRJA­RDINE, FOTOETAGE BREMEN/ FOTOLIA - DENDY ASRARI Friedrich Grade als LI von U96 und heute im Alter von 100 Jahren. am Sonnabend einen Artikel über die Entstehung des Films „Das Boot“.
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