Mammut-Prozess um Klinikmorde
Niels Högel nächstes Jahr erneut vor Gericht – Logistik-Probleme für Oldenburger Justiz
Die Soko „Kardio“hat insgesamt mehr als 300 Ermittlungsverfahren geführt. In mindestens 35 Fällen besteht dringender Tatverdacht.
OLDENBURG/DELMENHORST – Oldenburg erlebt im kommenden Jahr den wohl größten Mordprozess der Bundesrepublik. Dann wird der Klinikmörder Niels Högel erneut vor Gericht stehen: wegen der Tötung von Dutzenden Patienten in Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst. Die Polizei will die Ermittlungen im ersten Halbjahr 2017 abschließen.
Die Soko „Kardio“hat im Fall Högel nach Ð-Informationen insgesamt mehr als 300 Ermittlungsverfahren geführt. In mindestens 35 Fällen besteht dringender Tatverdacht. „Die Ermittlungen laufen noch. Dinge ändern sich tagesaktuell“, sagte Soko-Chef Arne Schmidt der Ð.
Der Prozess sprengt alle Dimensionen und dürfte die Oldenburger Justiz vor logistische Probleme stellen. Unter anderem, weil die Delmenhorster Anwältin Gaby Lübben nach eigenen Angaben bereits 54 Nebenkläger vertritt. „So viele Nebenkläger bekommen wir in keinem Sitzungssaal des Landgerichts Oldenburg untergebracht“, sagte Gerichtssprecher Michael Herrmann der Ð. Alternativen werden gesucht.
Dazu kommen möglicherweise Prozesse gegen Ex-Kollegen von Högel, denen Totschlag durch Unterlassung vorgeworfen wird.
Die Polizei hat allein im Klinikum Delmenhorst über 200 Todesfälle überprüft. Ermittelt wird auch im Klinikum Oldenburg, im Rettungsdienst im Oldenburger Land und in einem Altenheim in Wilhelmshaven. Im Rettungsdienst gibt es nach Ð-Informationen mindestens einen Tötungsversuch von Högel, den der Patient überlebt hat.
Seit März 2015 hat die Polizei rund 100 Leichen von verstorbenen Patienten auf Friedhöfen in Deutschland, in der Türkei und in Polen exhumiert. Für sechs Taten in Delmenhorst wurde Högel bereits verurteilt, er verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in der JVA Oldenburg.
Was erwartet lebenslänglich Inhaftierte im Gefängnis? Ein Besuch in der Oldenburger Justizvollzugsanstalt.
OLDENBURG/DELMENHORST – Er lebt jetzt hinter einer grünen Stahltür, so wie alle anderen hier auch. Auf 9,9 Quadratmetern, gefüllt mit Haftraumstandard: ein Multiplex-Holzbett mit zwei integrierten Regalböden; ein abnehmbares Wandregal, 40 mal 40 Zentimeter; ein Kleiderschrank, zwei Meter hoch und 50 Zentimeter breit; ein Sideboard für Lebensmittel; ein Stuhl; ein Fernsehtisch. Abgetrennt der Waschraum: Waschbecken, Toilette, Spiegel, Wandregal.
Vor jedem Fenster hängt ein nichtbrennbarer Vorhang, hinterm Fenster ragen zuerst viereinhalb Meter Stacheldrahtzaun auf, dann sechseinhalb Meter Mauer.
Irgendwo hinter der Mauer muss Oldenburg sein. Und die Welt.
Den Alltag gestalten
Oben in seinem Büro (Teppich auf dem Fußboden, Kunst an den Wänden) sitzt der Gefängnisdirektor, und natürlich sagt er bald seinen berühmten Satz, den GerdKoop-Satz: „Und morgen sind sie wieder unsere Nachbarn.“„Sie“, das sind die Gefangenen, 254 Männer aus 35 Nationen – und Koops Satz soll daran erinnern, dass verurteilte Straftäter irgendwann ihre Strafe abgesessen haben und aus dem Gefängnis entlassen werden. Koop, 64 Jahre alt und seit 25 Jahren Leiter der Justizvollzugsanstalt Oldenburg, versteht seine JVA deshalb als „Übungswerkstatt für gescheiterte Menschen, um in die Gesellschaft zurückkehren zu können“.
Aber was fängt man an in dieser Übungswerkstatt mit Gefangenen, die vermutlich nie in die Gesellschaft zurückkehren werden? Gefangene wie der Klinikmörder Niels Högel, verurteilt zu lebenslanger Haft.
In Niedersachsen verbüßen derzeit 179 Menschen eine lebenslange Haftstrafe. Bei 52 hat das Gericht zudem die „besondere Schwere der Schuld“festgestellt, so wie bei Niels Högel. 14 von ihnen sitzen bereits 25 Jahre oder länger in Haft; einige werden das Gefängnis wohl nie wieder verlassen. Insider gehen davon aus, dass das auch Högel drohen könnte. Ende Dezember wird er 40 Jahre alt.
Gerd Koop spricht nicht über Högel. Er sagt nur, dass man mit solchen „Langstrafigen“ein Leben im Gefängnis üben muss. „Wir wollen dazu beitragen, dass die Gefangenen sich nicht aufgeben“, sagt Koop. „Dass sie weiter an sich arbeiten. Dass sie im Laufe der Zeit selbstkritischer werden. Dass sie den Alltag gestalten. Wir legen sehr viel Wert auf geregelte Arbeitszeiten.“
Zellenaufschluss um 6
Morgens, 6 Uhr: Zellenaufschluss. Die Gefangenen haben kurz Zeit zum Duschen, dann werden sie aus ihren Abteilungen zur Arbeit geführt. In der JVA gibt es verschiedene Werkstätten, die Häftlinge verpacken Müllbeutel, schweißen Edelstahlgrills, stecken Kabelbäume zusammen. Auf dem Weg zur Arbeit: Metalldetektoren, stichprobenartige Durchsuchungen.
Nach der Arbeit, so ab 16 Uhr, haben die Gefangenen Zeit für sich. In Oldenburg sind die grünen Zellentüren offen – zumindest solange
einem Häftling dieses Privileg nicht wegen Fehlverhaltens genommen wird. Sie können im Aufenthaltsraum Billard spielen, Tischkicker, Darts. Sie können Sport treiben, sie können ein Musikinstrument lernen. Sie haben eine Stunde Hofgang. Durch die Fenster hinter den nichtbrennbaren Vorhängen sieht man sie draußen im Kreis laufen, entlang der Mauern.
Sechseinhalb Meter Stein verhindern nicht, dass ein Gefangener Kontakt nach draußen aufnimmt, nach Oldenburg und in die Welt. Klinikmörder Niels Högel ist da offenbar besonders rege: Er versucht, Einfluss auf die mediale Darstellung seiner Geschichte zu nehmen – und auch auf ihre Vermarktung. Menschen, die Högel in den vergangenen Jahren erlebt haben, bezeichnen ihn als eitel, als Narzisst gar. Im Prozess berichteten Mithäftlinge, Högel habe regelrecht Hof gehalten im Gefängnis. Das soll aber mittlerweile vorbei sein, ist von Insidern zu hören.
Mithäftlinge werden irgendwann wieder entlassen – so wie Lars T., wie Högel ein gelernter Krankenpfleger. „Högel und ich haben uns kennen- und schätzen gelernt“, erzählt er. „Uns verbindet eine Freundschaft.“Er besuche Högel auch. Lars T. arrangiert das Außenleben von Högel, also außerhalb der Gefängnismauern. Den Kontakt zu den Eltern in Wilhelmshaven. Zu Journalisten. Sagt er.
„Högel will sich öffnen. Er ist mehr und mehr bereit, mit der Presse zusammenzuarbeiten“, fügt Lars T. noch hinzu. Als ob das so einfach wäre für einen Serienmörder, dem der größte Prozess noch bevorsteht. Lars T. sucht offenbar auch Kontakt zu Angehörigen von Högel-Opfern. Warum? Geld habe er nie gewollt, sagt einer, der Lars T. kennt.
Sogar Fotos von Högel finden ihren Weg durch die Mauer. Im Nachrichtenmagazin „Spiegel“ist jetzt wieder ein Bild von Högel aufgetaucht, offenbar aktuell, offenbar aufgenommen in der JVA. Fotografiert mit einem Handy? JVA-Chef Koop sagt, es komme vor, dass Mobiltelefone in den Knast geschmuggelt werden – trotz des Einsatzes von Ortungsgeräten.
Im Sommer 2015, Högel war erst wenige Monate zuvor zu Lebenslang verurteilt worden, strahlte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) ein Interview mit ihm aus, geführt hinter Gittern. 5000 Euro sollen dafür angeblich an Högel geflossen sein, möglicherweise auf ein Sonderkonto. Als Kritik am Honorar für einen Mörder laut wird, will der Sender von einer „entsprechenden Zahlung der Autorin beziehungsweise der Produktionsfirma, für die sie gearbeitet hat“nichts wissen.
Geschäft mit dem Leid?
Auch Högel-Opfer versuchen inzwischen offensichtlich, Geld mit ihrer Geschichte zu machen. Nebenkläger-Anwältin Gaby Lübben hat für einen ihrer Mandanten bei Medien angefragt – und sich damit Ärger eingehandelt. Eine Zeitung warf Lübben vor, Geschäfte mit dem Leid zu machen. „Ich verkaufe keine Opfergeschichte. Dies würde mir auch weder rechtlich noch moralisch zustehen“, verteidigt sich die Delmenhorster Anwältin. „Vielmehr begehrt mein Mandant eine Aufwandsentschädigung für das Schildern seiner grausamen Erfahrungen mit dem Krankenpfleger.“
Und die ehemaligen Kollegen, sofern sie nicht selbst ins Visier der Ermittler geraten sind? „Der rennt rum, versucht was aus der Geschichte zu machen“, wird über einen Ex-Kollegen von Högel gesagt. Geht es um Geld? Um die Wahrheit? Um Aufarbeitung eines Traumas? Einiges verwischt.
Inzwischen ist jedenfalls die Polizei hellhörig geworden und forscht nach, wer was an wen verkaufen will. Schließlich geht es um einen Serienmörder und laufende Ermittlungen. Da verstehen die Behörden keinen Spaß. Zumal kürzlich Details aus den Ermittlungsakten durchsickerten. Ein Ermittler sagt: „Da tauchen immer mehr Leute auf, die Geld verdienen wollen mit der Geschichte.“
Vor dem nächsten Prozess
Geld kosten auch Rechtsanwälte, etwa die Vertreter der Klinikmitarbeiter aus Delmenhorst, gegen die ermittelt wird. Verdacht: Totschlag durch Unterlassung. Da taucht zum Beispiel der Name der Kanzlei Joester & Partner aus Bremen auf. Erich Joester sprach für das Klinikum Delmenhorst, als Högel vor Gericht stand. Er forderte, „dass wir aus diesem Fall Schlussfolgerungen für Deutschland und die ganze Welt ziehen“. Er kündigte Entschädigungen für die Högel-Opfer an, „wenn eine Mitschuld festgestellt wird“. Jetzt verteidigt seine Kanzlei Menschen, denen eine Mitschuld vorgeworfen wird. Die helfen könnten, Schlussfolgerungen zu ziehen.
20 Uhr, Nachteinschluss im Gefängnis, die Vollzugsbeamten verriegeln die grünen Stahltüren. Jetzt sind die Häftlinge allein mit sich.
Eine Liste der „zulassungsfähigen Gegenstände“erlaubt ihnen persönlichen Besitz, zum Beispiel: ein Flachbildschirm, 66 Zentimeter; eine Schreibmaschine; eine Kaffeemaschine; ein Schachcomputer; zehn Bücher; zwei Poster; eine Landkarte (nicht von Deutschland oder ohne Straßenverzeichnisse).
Vermutlich noch 2017 wird Niels Högel erneut vor Gericht stehen. Großer Medienauflauf, danach wird das Interesse an Högel abflauen. Laut Justizministerium bekommen 28 Prozent der Lebenslänglichen keinen Besuch mehr von Angehörigen oder Freunden.