Scharfe Warnung Richtung Türkei
Steinmeier kritisiert Festnahmen von Oppositionspolitikern
ANKARA – Seit der Niederschlagung des Putsches in der Türkei Mitte Juli haben die Behörden mehr als 36000 Verdächtige in Untersuchungshaft gesperrt, die Gefängnisse sind so voll, dass gewöhnliche Straftäter entlassen werden müssen. Immer mehr Regierungskritiker werden festgenommen – auch solche, die erklärte Gegner des Putsches gewesen sind.
Zu Wochenbeginn trifft es Journalisten der Zeitung „Cumhuriyet“, jetzt sind es Abgeordnete der pro-kurdischen HDP: In der Nacht werden sie festgenommen, acht Haftbefehle werden erlassen.
Mehr als fünf Millionen Wähler haben die HDP zur zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament gemacht. Nun müssen die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag ins Gefängnis: Noch am Freitag wird gegen sie Untersuchungshaft verhängt. Demirtas ist der profilierteste Gegner von Recep Tayyip Erdogan.
Ministerpräsident Binali Yildirim nennt die Festnahmen am Freitag eine „rechtskonforme Prozedur“. Die HDP sieht das anders. Die Partei spricht von „politischer Lynchjustiz“und warnt vor einem „Ende der Demokratie in der Türkei“.
Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK ruft am Freitag alle Kurden zum Widerstand auf. „Heute ist der Tag, sich zu erheben gegen diejenigen, die die Existenz der Kurden auslöschen wollen.“Wenige Stunden nach den Festnahmen war es bereits in der Kurdenmetropole Diyarbakir zu einem schweren Autobombenanschlag gekommen, den die Regierung der PKK zuschreibt. Laut Yildirim gibt es mindestens neun Tote.
Die Festnahmen rufen auch international Kritik und Sorge hervor. Regierungssprecher Steffen Seibert sieht „alle internationalen Befürchtungen“bestätigt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellt am Freitag den türkischen Gesandten Ufuk Ezer ins Auswärtige Amt ein. „Es ist jetzt an den Verantwortlichen in der Türkei“, sagt Steinmeier, „sich darüber klar zu werden, welchen Weg ihr Land gehen will und was das bedeutet für die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.“
Auch Bundespräsident Gauck findet deutliche Worte. „Was ich derzeit in der Türkei beobachte, bestürzt mich“, sagt er dem „Spiegel“. Wenn Ankara den Putschversuch nutze, „um etwa die Pressefreiheit faktisch auszuhebeln, wenn es die Justiz instrumentalisiert und der Präsident die Wiedereinführung der Todesstrafe betreibt“, dann würden zentrale Grundlagen eines demokratischen Rechtsstaats außer Kraft gesetzt.
Auch in einer Erklärung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und EU-Kommissar Johannes Hahn vom Freitag heißt es, die jüngsten Entwicklungen gefährdeten die Demokratie in der Türkei.
Der türkische Justizminister Bekir Bozdag schießt am Freitag zurück: Weder Angela Merkel noch die EU hätten das Recht, der Türkei „Lehren zu erteilen“. Bei seinem Auftritt in Ankara spielen die Festnahmen und der Anschlag nur eine Nebenrolle. Das Statement des Ministers gerät zur Wutrede gegen Deutschland. Er sagt, „dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche“. Und: „Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche. Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte.“Erdogan hatte sich schon am Donnerstag über die deutschen Sorgen mokiert.
Die Festnahmen sind die bislang letzte Eskalationsstufe eines Konflikts, der lange vor dem Putschversuch begonnen hat. Nach ihrem Debüt im Parlament im vergangenen Jahr begann Erdogan einen wahren Feldzug gegen die HDP, die er bei jeder Gelegenheit beschuldigt, das Sprachrohr der PKK zu sein. Auf Betreiben Erdogans beschloss das Parlament im Mai, die Immunität von mehr als 150 Abgeordneten aufzuheben. Seit Juni haben sie keinen Schutz mehr. 55 von 59 HDP-Parlamentariern verloren ihre Immunität.