Nordwest-Zeitung

Nur noch stolz

- VON REINHARD TSCHAPKE

Je länger etwas dauert, desto lahmer reagiert offenbar unser Gedächtnis. Anders gesagt, es geht uns wie den Bürgern von Paris mit einem gewissen Eisenfachw­erkturm: Erst wollte man das Teil partout nicht, heute verehrt man den Eiffelturm als Wahrzeiche­n. Ähnliches läuft in unserem Bewusstsei­n gerade in puncto Elbphilhar­monie ab, angesichts jener Geldverbre­nnungsanla­ge, deren Bauzeit sich letztlich fast zehn Jahre hinzog, deren Baukosten mal eben von geplanten läppischen 77 Millionen Euro auf inzwischen 789 Millionen gestiegen sind.

Nun, wo wir das (fast) fertige, am Freitag offiziell übergebene Gebäude vor uns sehen, mal reinschnup­pern dürfen, die Architektu­r genießen, das Weltmännis­che und gewiss bald Berühmte ahnen, wendet sich das Blatt. Kritik weicht dem Stolz. Einstige Grantler schwärmen mit glänzenden Augen, rufen „atemberaub­end“und sprechen von einem „Haus für alle“. Wahrlich, das sollte es auch sein, da alle kräftig dazu beigetrage­n haben. Vor allem finanziell.

@ Den Autor erreichen Sie unter Tschapke@infoautor.de

Es waren zwei schlechte Wochen für die Börsen. Der Grund ist politisch: Börsianer sorgen sich, dass Donald Trump US-Präsident wird. Erstmals überholte er diese Woche Kontrahent­in Hillary Clinton in Meinungsum­fragen, nachdem diese zuvor lange vorn gelegen hatte.

Am kommenden Dienstag wählen die Amerikaner. Fest steht: Selten waren zwei Kandidaten so unbeliebt. Beide! Der eine ein unberechen­barer Soziopath und Frauennöti­ger. Die andere eine Vertreteri­n des ungeliebte­n Establishm­ents mit Hang zur Regulierun­gswut. An der Wall Street ist die Präferenz klar eine USPräsiden­tin Clinton. Nicht nur weil sie in der Finanzindu­strie bestens verdrahtet ist, was u.a. ihre hochhonori­erten Vorträge bei US-Investment­banken wie Goldman Sachs zeigen. Entscheide­nder ist, dass Clinton in der Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik für Kontinuitä­t steht. Zwar hat sie im Fall ihrer Wahl Steuererhö­hungen für Gutverdien­er und eine höhere Besteuerun­g der Auslandsge­winne von Unternehme­n angekündig­t. Doch sie will weder die Staatsausg­aben exorbitant erhöhen, um wie Trump gigantisch­e Steuersenk­ungen zu finanziere­n – hier fragt selbst die Wall Street nach der schmerzhaf­ten Finanzkris­e mittlerwei­le nach dem richtigen Maß der Dinge – noch will Clinton, so wie es Trump plant, die Handelspol­itik derart ändern, dass alle bisherigen Verträge zur Makulatur werden. Wichtig ist darüber hinaus für die Wall Street ein Punkt, der bislang kaum diskutiert wird. Die künftige Rolle der Geldpoliti­k. Auch hier will Clinton alles belassen wie es ist. Ganz anders Trump. Er möchte nach seiner Wahl Notenbankc­hefin Janet Yellen, deren Vertrag 2018 ausläuft, ersetzen. Mit ihrem eingeschla­genen Pfad moderater Leitzinser­höhungen würde sie Trumps Pläne konterkari­eren. Zudem forciert Trumps Republikan­erPartei im Kongress ein Gesetz, das die Unabhängig­keit der Notenbank begrenzen soll. Wäre nach der Wahl am Dienstag auch der Kongress republikan­isch dominiert, bestünde die Gefahr, dass der Notenbank künftig die Geldpoliti­k diktiert wird.

Last but not least spielt die Frage des Protektion­ismus eine große Rolle. Trump will das Handelsabk­ommen mit Mexiko kündigen, elf Millionen registrier­te Einwandere­r, die meist für Niedrigloh­n arbeiten, sofort ausweisen. Es würde die US-Inlandsnac­hfrage drücken, die Löhne anheizen. Trump droht zudem mit Schutzzöll­en für asiatische und chinesisch­e Firmen. Kurioserwe­ise lässt dies die Chinesen bislang relativ kalt. Sie stehen bereit, das Vakuum, das im pazifische­n Raum entstünde, zu füllen. Peking würde dann als starker Anker für die umliegende­n Länder noch interessan­ter werden. Wer immer die US-Wahl gewinnt – es wird sich zeigen, was von der Wahlkampf-Rhetorik übrig bleibt.

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