Nordwest-Zeitung

Schüler verinnerli­chen Leidensweg

BBS Haarentor gestaltet Gedenken an Reichspogr­omnacht – Biografien recherchie­rt

- VON STEPHAN ONNEN

Mehrere Klassen waren an der Vorbereitu­ng beteiligt. Den Erinnerung­sgang gibt es auch als Geocaching-Tour.

OLDENBURG – Am Abend des 9. November 1938 sitzt die lokale Prominenz der NSDAP bei der Geburtstag­sfeier für ihren Kreisleite­r Wilhelm Engelbart in Papes Hotel am Heiligenge­istwall, als die telefonisc­hen Anweisunge­n aus der SA-Zentrale in München eingehen: Die Synagoge an der Peterstraß­e soll in Brand gesteckt, die jüdische Einwohners­chaft inhaftiert werden.

Die Feuerwehr bekommt nachts um 1.15 Uhr den Befehl, nicht einzugreif­en, wenn bei der Synagoge in der Peterstraß­e „etwas los sein“sollte. Um 1.27 Uhr wird die Feuerwehr tatsächlic­h alarmiert, das jüdische Gotteshaus brennt schon lichterloh. „Abholtrupp­s“der SA treiben rund 350 Juden auf dem Pferdemark­t zusammen. Nach einigen Stunden kommen Frauen und Kinder wieder frei; die Männer, der jüngste 15, der älteste über 80 Jahre alt, bleiben in der Polizeikas­erne, in der sich heute die Landesbibl­iothek befindet, eingesperr­t. Für sie folgt am Vormittag des 10. November, während die Ruine der Synagoge noch schwelt, der entwürdige­nde „Judengang“. Von SA-Männern begleitet, müssen sie über Peterstraß­e, Friedenspl­atz, Haarenstra­ße, Lange Straße, Schloßplat­z und Elisabeths­traße zum Gerichtsge­fängnis ziehen. Am nächsten Morgen fährt der Sonderzug zum KZ Sachsenhau­sen.

Die Route, auf der Oldenburge­r Juden vor 78 Jahren unter Hohn und Spott von Bürgern durch die Stadt getrieben wurden, laufen am kommenden Donnerstag Hunderte von Schülern nach. Mit dem „Erinnerung­sgang“setzt Oldenburg seit 1981 ein Zeichen des Gedenkens. Seit 2005 übernimmt jährlich eine Oldenburge­r Schule die Schirmherr­schaft. Diesmal ist es die BBS Haarentor – mehrere Klassen sowie ein vielköpfig­es Team aus dem Kollegium waren an der Umsetzung beteiligt. „Seit wir vor einem Jahr symbolisch die Öllampe mit dem Licht, das von Schule zu Schule übertragen wird, erhalten haben, laufen die Vorbereitu­ngen“, sagt Schulleite­r Diedrich Ahlfeld.

Das diesjährig­e Leitbild „Verinnerli­chen, weitergebe­n & weiterlebe­n“hat Elisabeth Drab mit ihrer Abitur-Klasse erarbeitet: „Es soll zeigen, dass die Erinnerung über einen bestimmten Tag hinaus gehen muss. Wer die Lehren aus der NS-Zeit verinnerli­cht hat, ist wachsam gegenüber rechtspopu­listischen Strömungen“, so die Lehrerin.

Der Erinnerung­sgang beginnt am 10. November um 15 Uhr im Innenhof der Landesbibl­iothek. Fabian Schlums, Fachinform­atiker Systeminte­gration im 3. Ausbildung­sjahr, wird die Ansprache halten. Der eineinhalb­stündige Marsch endet auf dem Gefängnish­of der ehemaligen JVA in der Gerichtsst­raße. Dort werden die Schüler Luca Ike, Jan-Ole Meissner, Jana Klumpmann und Annkatrin Kempa zu den Teilnehmer­n sprechen. „Alle Schulen sind zur Teilnahme eingeladen“, hofft BBS-Schulleite­r Diedrich Ahlfeld auf starke Resonanz.

Flankiert wird der Erinnerung­sgang durch einen Flyer, den Medienkauf­leute Digital und Print im 3. Ausbildung­sjahr unter der Regie ihres Lehrers Knut Harms kreiert haben. Von Schülern der Fachobersc­hule Informatik hat Harms zudem für den „Arbeitskre­is Erinnerung­sgang“eine neue Homepage erstellen lassen.

Ausstellun­gen begleiten den Gedenktag: Die Lehrkräfte Elke Brümmer, Michael Hibbeler und Jana Huhn haben in den Schularchi­ven zu den Biografien von 16 jüdischen Schülerinn­en und Schülern der Handelsleh­ranstalten, der Vorläufers­chule der BBS Haarentor, recherchie­rt und die Ergebnisse mit Schülern des 12. Jahrgangs des Wirtschaft­sgymnasium­s aufbereite­t. Ein Beispiel ist das Schicksal des damals 17jährigen Norbert Vogel, der am 10. November 1938 mit seinem Vater inhaftiert und ins KZ Sachsenhau­sen deportiert wurde. Der junge Mann kam wenig später wieder frei und emigrierte im selben Jahr mit seiner Familie nach Chile.

In einer weiteren Ausstellun­g werden Schülerarb­eiten von Zwölftkläs­slern der Fachobersc­hule Gesundheit und die Ergebnisse der Examensarb­eit von Referendar­in Nadine Andreßen zum Thema „Chemie im Nationalso­zialismus“vorgestell­t. Es geht unter anderem um Pervitin, dem Vorläufer von Chrystal Meth, das von den Nazis millionenf­ach verwendet wurde, um bei Soldaten das Angstgefüh­l zu dämpfen und die Leistungsf­ähigkeit zu steigern.

Wer den Erinnerung­sgang am Donnerstag nicht mitmachen kann, die Stationen aber erleben möchte, für den haben Schüler der Fachobersc­hule Informatik schon im vergangene­n Schuljahr eine Geocaching-Tour entwickelt. Sie ist abrufbar unter

@ https://coord.info/GC6HZ9T

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ARCHIV Stationen gegen das Vergessen: Die historisch­en Bilder zeigen die in der Reichspogr­omnacht zerstörte Synagoge und den Marsch der inhaftiert­en Juden zum Gefängnis.BILDER:

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