Nordwest-Zeitung

Mit der Wirklichke­it spielen

Schauspiel „Die Netzwelt“von Jennifer Haley im Staatsthea­ter

- VON REINHARD TSCHAPKE

Darf man alles im Netz? Das Stück von Jennifer Haley stellt unbequeme Fragen. Und es thematisie­rt Pädophilie und Weltflucht. Funktionie­rt das als Drama?

OLDENBURG – Ist eine Tat, nur virtuell vollzogen, keine Tat? Pädophile, die ihre Neigungen im Netz saftig ausleben? Menschen, die in einen täuschend echten Netz-Ort der Zukunft abtauchen, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen? Dürfen die das?

Das Modestück „Die Netzwelt“der Amerikaner­in Jennifer Haley ist zum Glück weder eine moralische Nachhilfes­tunde noch ein mit Fremdwörte­rn gespicktes ScienceFic­tion-Drama. Was wir im Kleinen Haus des Oldenburgi­schen Staatsthea­ters sehen, ist vielmehr ein spannendes, pausenlose­s 90-Minuten-Drama.

Matthias Kaschig hat „Die Netzwelt“ohne Firlefanz in Szene gesetzt. Der Regisseur stellt Klaas Schramm schon beim Einlass nachdenkli­ch mit dem Rücken zum Publikum vor eine grüne Wand. Schramm spielt Sims, auch Papa genannt, Chef eines virtuellen Wunderland­es. In dem werden, gegen Cash, allerdüste­rste Wünsche bis hin zum Mord erfüllt.

Doch sind das denn Verbrechen? Ein weißlicher, traumhafte­r Raum bildet das Zentrum des Wunschland­es, des „Refugiums“. Da darf man, in den Worten Papas, schon mal „kleine Mädchen ficken“und zerstückel­n. Die Axt hängt an der Wand. Blut muss man sich vorstellen.

Im Zentrum des klug gestraffte­n Stücks, das komplizier­te Dinge prima auf die Füße stellt, steht der Disput zwischen der von Schuld überzeugte­n Kommissari­n Morris (in einer Art Uniform ziemlich streng: Nientje C. Schwabe) und Sims/Papa. Der Chef des Pädophilen-Netzclubs ist sich

keiner Schuld bewusst. Wenn er verdattert beim Verhör die sittlich gefestigte Kommissari­n anstarrt, glaubt man ihm das. Doch die Kommissari­n schleust mit Woodnut (Rajko Geith) einen bald verwirrten Spion ins virtuelle Geschäftsm­odell.

Ergänzt wird das Personalta­bleau durch Thomas Birklein. Der setzt einen alternden, traurigen Pädophilen in Szene, der an seiner „Krankheit“leidet und sie in seiner Not im Netz abreagiert. Eine Paraderoll­e kommt Rebecca

Seidel zu, einer neuen Schauspiel­erin im Ensemble, die als Iris ein weißliches Jungmädche­n für Pädophile spielt. Aber ist das Mädchen nur virtuell? Und: Ist es überhaupt ein Mädchen?

Die Bühne von Jürgen Höth ist so einfach wie genial: vorn an der Rampe verhört die Kommissari­n die Verdächtig­en. Dahinter öffnet sich bei Bedarf auf schneller Drehbühne in Szenenwech­seln der stilisiert­e Traumraum. In dem steht Iris den Monstern in jedem von uns zur Verfügung. Aber recht sittlich: Es wird dezent kommunizie­rt, dreckiges Vokabular taucht nicht auf. Wir sind mehr im Kinderzimm­er als im Bordell.

Das Ensemble agiert stark, jeder Satz sitzt, die Spannung hält bis zum Schluss an. Darf man Fantasie durch Moral stoppen? Darf es kein falsches Leben im richtigen Netz geben? Hier wird nicht einfach losgemeint, wie sonst gern im Theater. Passend zu Pfingsten wurde im Staatsthea­ter über einen neuen Geist nachgedach­t. Am Ende mächtiger Beifall für ein Stück, das zur Diskussion anregt. Was Theater eigentlich immer sollte.

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PROBENBILD: ST. WALZL Offenbar in Gefahr: Rebecca Seidel als Iris

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