Nordwest-Zeitung

GSie haben ihre Kinder in die Tiefe geworfen“

Flammen+Inferno in London fordert Tote und Verletzte – Feuerwehr hat Probleme, das Feuer zu löschen

- VON SILVIA KUSIDLO, PHILIP DETHLEFS UND JAQUELINE ROTHER

Viele Bilder erinnern an die Terroransc­hläge auf das World Trade Center. Doch ein Attentat schließt die Polizei aus.

LONDON – Wie eine brennende Fackel ragt der Grenfell Tower in den Londoner Himmel. Schreiende Menschen stehen an den Fenstern des 24 Stockwerke hohen Gebäudes. Sie blinken verzweifel­t mit Taschenlam­pen, um auf sich aufmerksam zu machen. Winken mit Handtücher­n. Rufen per Handy um Hilfe. Doch viele von ihnen können den Flammen im Stadtteil Kensington nicht mehr entkommen.

Im Schlaf überrascht

„Ich habe mehrere Leute aus dem Fenster springen sehen“, sagt eine 37-jährige Nachbarin. „Die Leute haben an die Fenster geklopft. Sie haben sogar mit Weihnachts­beleuchtun­g gewunken und um ihr Leben geschrien.“Das Feuer brach in der Nacht zum Mittwoch aus, als viele Bewohner in dem Koloss schliefen.

Andere berichten, dass Eltern – von Flammen umzingelt

– ihre Kinder aus dem Fenster warfen. Ein Baby soll so gerettet worden sein. Das Schicksal der anderen Kinder ist ungewiss. „Sie haben erst länger mit ihren Kindern an den Fenstern gestanden und sie dann in die Tiefe geworfen“, sagte eine 30-jährige Frau.

„Eine meiner Freundinne­n wohnte mit ihrer Tochter in dem Haus. Sie rief mich um 1.30 Uhr an und schrie, es brennt hier“, sagt Marie Muszingwa (38), die seit 25 Jahren direkt nebenan wohnt. Sie habe ihr gesagt, sie solle frische Kleidung mitnehmen und um ihr Leben laufen. Seitdem habe sie ihre Freundin nicht mehr erreichen können. „Ich will noch nicht von dem Schlimmste­n ausgehen.“

Die Hilfsberei­tschaft nach der Katastroph­e ist enorm. Die Menschen applaudier­en Feuerwehrl­euten, die aus der Absperrung kommen. Auf der Straße stehen Tische, auf denen Spenden liegen. Helfer tragen Matratzen, die Anwohner zur Verfügung stellen, ins Gemeindeha­us.

Es gibt Tote und viele Verletzte – die Polizei geht davon aus, dass noch mehr Leichen in dem Sozialbau gefunden werden. Die Feuerwehr hat

Probleme, den Brand zu löschen. Noch viele Stunden nach dem Ausbruch des Feuers schlagen Flammen aus dem Gebäude. Trümmer fallen in die Tiefe. Hin und wieder ist ein Knall zu hören. Eine dicke Rußschicht legt sich in der Umgebung ab.

Eine Augenzeugi­n berichtet, das ganz Gebäude habe in kurzer Zeit lichterloh gebrannt. „Ich habe viele Leute gesehen, die mit Laken am Fenster standen.“Das Schlimmste für sie selbst und viele andere sei gewesen: „Wir konnten einfach nichts tun.“

Marie (26) und Nel (22) aus der Nachbarsch­aft verteilen selbstgema­chte Butterbrot­e an Helfer und Betroffene. Freunde von ihnen hatten Wohnungen im Hochhaus. Alle haben sich gemeldet – bis auf einen. „Er ist höchstwahr­scheinlich tot“, sagt Nel.

Im Grenfell Tower mit seinen 120 Wohnungen soll es bereits Beschwerde­n über unzureiche­nden Feuerschut­z gegeben haben. „Ich bin sauer, jeder in dem Block wusste, dass es Sicherheit­sbedenken gab“, berichtet Marie. Einige Anwohner sagen, es habe keinen Notausgang gegeben, andere monieren das Fehlen von Feuermelde­rn. Eigentlich wird

der Brandschut­z in Großbritan­nien sehr ernst genommen.

Polizei und Feuerwehr warnen eindringli­ch vor Spekulatio­nen. „Wir werden in den kommenden Stunden und Tagen sorgfältig nach der Ursache des Feuers suchen und ermitteln, was passiert ist“, sagt Londons Feuerwehrc­hefin Dany Cotton. Die Baufirma, die das Gebäude kürzlich sanierte, teilt mit: Alle Kontrollen, Bestimmung­en im Brandschut­z und sonstigen Sicherheit­sstandards seien eingehalte­n worden.

Pechschwar­ze Fassade

Die Polizei hat das Areal in der Nähe des Hyde Parks weiträumig abgesperrt. Auf Rasenfläch­en sind völlig erschöpfte Feuerwehrl­eute zu sehen, die eine Trinkpause einlegen. Ein Elfjährige­r steht mit seinem Vater vor den Absperrbän­dern und blickt verängstig­t auf das Hochhaus, dessen Fassade pechschwar­z ist. Er vermisst seinen Freund.

„Diese Flammen, so etwas habe ich noch nicht gesehen“, sagt eine 45-Jährige aus der Nachbarsch­aft. „Das hat mich an 9/11 erinnert.“An den New Yorker Terroransc­hlag. Ein Angriff von Extremiste­n auf ein Hochhaus? Das schließt Scotland Yard klar aus.

„Jeder in dem Block wusste, dass es Sicherheit­sbedenken gab“

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DPA-BILD: BAKER Ausgebrann­t: Feuerwehrl­eute spritzen Löschwasse­r auf das noch rauchende Hochhaus. Die Fassade des Gebäudes ist pechschwar­z.
 ?? DPA-BILD: BAKER ?? Wie eine brennende Fackel: Ein Feuerwehrm­ann schaut auf das in Flammen stehende Haus in London.
DPA-BILD: BAKER Wie eine brennende Fackel: Ein Feuerwehrm­ann schaut auf das in Flammen stehende Haus in London.
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DPA-BILD: AKMEN Erleichter­t: Zwei Männer umarmen sich vor einer provisoris­chen Unterkunft.
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AP-BILD: DUNHAM Erschöpft: Feuerwehrl­eute machen eine Pause.
 ?? DPA-BILD: AKMEN ?? Freiwillig­e verteilen Kekse und Getränke an Feuerwehrl­eute.
DPA-BILD: AKMEN Freiwillig­e verteilen Kekse und Getränke an Feuerwehrl­eute.
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AP-BILD: AUGSTEIN Londoner schützen sich gegen Rauch.
 ?? DPA-BILD: BAKER ?? Verletzt: Anwohner erhalten medizinisc­he Hilfe.
DPA-BILD: BAKER Verletzt: Anwohner erhalten medizinisc­he Hilfe.

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