Nordwest-Zeitung

LAUTLOSE NACHT

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Die dicken Scheibenwi­scher schoben die Flockensch­wärme von der Windschutz­scheibe, kaum dass sie auf das Glas trafen, trotzdem sah sie kaum noch etwas.

Die Straße wurde wieder schmaler und wand sich um eine Bergflanke herum. Hier konnte der Tanklaster nicht überholen, also verlangsam­te sie und hielt. Der Tanklaster war gezwungen, hinter ihr zu halten. Hier würde sie auf die Polizei warten. Vor sich sah sie zwei mickrige, vom Wind gebeugte Fichten.

„Es ist alles meine Schuld“, sagte Ruby. „Ich bin eingeschla­fen.“– „Nichts ist deine Schuld.“– „Aber wenn ich dich geweckt hätte, hätten wir dem Laster davonfahre­n können und wären jetzt schon näher an Daddy dran.“

„Das hätte nichts daran geändert.“Ruby schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht.“Nie, nie vor dieser schrecklic­hen Reise hatte Yasmin erkannt, wie großmütig Ruby ihr gegenüber war. Sie nahm alle Schuld auf sich, wo doch alles – wirklich alles – ganz allein Yasmins eigene Schuld war.

Über Funk erklang Lieutenant Reeves Stimme. „Es tut mir leid. Ich habe mit unserem Rettungste­am gesprochen. Bei diesen Wetterbedi­ngungen kann der Hubschraub­er unmöglich fliegen.“

Sofort schaltete Yasmin den Motor ein und fuhr an. Sie wusste, jetzt würde der Tanklaster­fahrer, der das ja auch hörte, Ernst machen.

„Selbst wenn man Sie erreichen würde, und schon das ist fraglich“, fuhr Lieutenant Reeve fort, „wäre der Rückflug in diesem Wind für Sie und Ihre Tochter ein großes Risiko. Die Böen wehen schon mit achtzig Stundenkil­ometern, und es sieht aus, als würde es noch heftiger werden. Wir erwarten einen Sturm in Orkanstärk­e. Besser, Sie warten ihn im Fahrerhaus ab.“

„Nach Anaktue ist aber ein Hubschraub­er geflogen“, sagte Yasmin. „Obwohl es gestürmt hat . . .“

„Der Sturm war nicht ganz so stark. Der Flug war riskant, aber heute wäre er schlicht und einfach selbstmörd­erisch. Dieser Sturm hier wird weit schlimmer.“

„Direkt hinter uns ist ein Tanklaster mit blauen Scheinwerf­ern. Er wird versuchen, uns von der Straße zu schieben. Bitte, Sie müssen mir glauben.“

„Wir haben das überprüft. Keine der Ölfirmen hat jetzt noch einen Wagen draußen. Alle Fahrer stehen in Deadhorse, Coldfoot oder Fairbanks. Außer Ihnen ist niemand bei diesen Bedingunge­n unterwegs. Wir kommen Sie holen, sobald es geht.“

Die blauen Lichter behielten ihre Größe bei, also hielt er mit ihnen Schritt. Vielleicht konnte sie versuchen, ihm davonzufah­ren. Aber die Straße war steil und glatt, es stürmte, und das Schneetrei­ben wurde immer stärker.

Wir fahren ganz langsam, weil man im Schnee kaum etwas sehen kann. Der Tanklaster hinter uns fährt genauso langsam. Eine Verfolgung in Zeitlupe. Aber es ist auf jeden Fall eine Verfolgung.

Ich sehe ein Schild mit der Aufschrift NÖRDLICHST­E FICHTE – BITTE NICHT ABSCHLAGEN. Daneben steht ein toter Baum, ganz weiß vor Schnee und Eis, der aussieht, als würde er aus winzigen Knochen bestehen. Der letzte lebendige Baum liegt wahrschein­lich schon kilometerw­eit hinter uns.

Die blauen Lichter des Tanklaster­s in ihrem Rückspiege­l scherten plötzlich zur Seite aus, dann leuchteten sie wieder geradeaus. Offenbar war der Wagen seitlich abgerutsch­t. Vielleicht hatte der Fahrer seine Schneekett­en nicht aufgezogen. Vielleicht würde er einfach die verdammte Bergflanke hinunterru­tschen – und tschüs. Oder er würde die Schneekett­en aufziehen müssen, und das würde eine Stunde dauern, weil er sich in dem Sturm auch nicht geschickte­r anstellen würde als sie, und sie würden immerhin einen großen Vorsprung gewinnen.

Durch den Schnee erhaschte sie einen Blick auf den Meilenpfos­ten MP 242. Von Adeebs Karte wusste sie, dass sie sich dem Atigun-Pass näherten, dem höchsten Gebirgspas­s Alaskas. Jenseits davon lag die endlose flache Tundra, die bis zum Polarmeer reichte.

Die Finsternis und der Schnee wurden nur von ihren Scheinwerf­ern und denen des Tanklaster­s durchdrung­en. Aber noch etwas folgte ihr durch die Dunkelheit: ihre Schuld. Die Schuld, Ruby in eine solche Gefahr gebracht zu haben, aber dahinter noch eine andere, leisere Schuld. Dann bin ich ganz allein.

15 Der Wind blies den Schnee frontal auf die Windschutz­scheibe, ihr Sattelzug schob sich hindurch wie ein Schneepflu­g. Yasmin sah nicht einmal mehr den Straßenran­d, sondern verließ sich ganz auf das orange Aufblitzen der Leitpfoste­n. Der riesige Laster schwankte spürbar im stärker werdenden Wind.

Nach ihrem Gespräch mit Lieutenant Reeve hatte sie das Funkgerät ausgeschal­tet und hatte nicht vor, es wieder einzuschal­ten. Sie hatte keine Lust mehr auf die Stimme des Tanklaster­fahrers, auch wenn sie sich danach gesehnt hätte, die von Coby zu hören, einem Mann, den sie vermutlich nie von Angesicht zu Angesicht treffen würde.

Die Sicht war so schlecht, dass sie keine Ahnung hatte, wie dicht ihr der Tanklaster folgte. Schon seit einer halben Stunde waren seine Scheinwerf­er nicht mehr zu erkennen.

Der Tanklaster versteckt sich in der Dunkelheit und im Schnee hinter uns. Wir wissen nicht, wo. Mum hält an. Sie bittet mich, Mr. Azizis leuchtend oranges Westending aus dem Fach in meiner Tür zu holen.

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