Nordwest-Zeitung

Weg von der Flasche

2i3 trockener Alkoholike­r berichtet

- VON KA<STIN BUTTKUS

Im Alter von 15 Jahren begann Dieter S., regelmäßig zu trinken. Heute ist er 65 – und seit sechs Jahren abstinent.

/ES ERSTEDE – „Ich mochte schon immer gerne Alkohol“, gesteht Dieter S. Bereits mit 15, sagt er, habe er sich regelmäßig betrunken. „Das ging bis zum Verlust der Mutterspra­che. Aber ich fühlte mich einfach besser, war entspannte­r, weniger gehemmt.“Heute ist Dieter S. 65 Jahre alt – und seit einigen Jahren trocken.

Er ging einen weiten Weg, der ihn in manche Sackgasse führte. Denn lange hat es gedauert, bis sich der Westersted­er eingestehe­n konnte, Alkoholike­r zu sein.

„Niedrigste Stufe“

„Alkoholike­r – das waren für mich Menschen auf der niedrigste­n Stufe. Zu denen wollte ich auf keinen Fall gehören.“Der gelernte Maschinenb­auer hatte Glück. Der wirtschaft­liche und der soziale Abstieg blieben ihm erspart.

S. erzählt freimütig von seiner Zeit in der Abhängigke­it. Als er nachts aufstand, um sich zu betrinken. Als er in seinem Wagen Ouzo- und Bierflasch­en hortete. Als er während der halbstündi­gen Fahrt zur Arbeit fast einen Liter Hochprozen­tiges in sich hineinschü­ttete und nach der Mittagspau­se „nachtankte, um den Pegel zu halten“.

Damit seine Frau das wahre Ausmaß des Alkoholkon-

sums nicht entdeckte, versteckte er seine Vorräte. „Aber sie hat sie gefunden und den Inhalt der Flaschen weggeschüt­tet. Ich war so wütend auf sie.“Und er schämte sich. Immer wieder beteuerte er, mit der Trinkerei aufhören zu wollen. „Bestimmt 1000 Mal habe ich’s meiner Frau versproche­n und genauso oft das Verspreche­n gebrochen.“Dennoch hielt sie – entgegen dem Rat von Freunden und Verwandten – zu ihm. „Irgendwann habe ich ihrem Wunsch nachgegebe­n und bin

zu einem Treffen der Anonymen Alkoholike­r in Westersted­e gegangen. Einmal und nie wieder, habe ich mir hinterher gedacht. Ich war mir sicher, dass ich nicht in diesen Kreis gehöre, und bin erst mal auch nicht wieder dort erschienen.“

Als dann der Arbeitgebe­r insistiert­e, entschied sich S. für eine stationäre Entziehung­skur. „Ich bin mit 1,6 Promille in die Karl-JaspersKli­nik gekommen. Nach 14 Tagen habe ich sie wieder verlassen“, berichtet S.

Er fühlte sich geheilt. Ein trügerisch­es Gefühl. Ein Jahr später war er wieder dort. Diesmal kam er nüchtern und blieb sechs Wochen. Führte intensive Therapiege­spräche, entdeckte das Malen für sich. Und versuchte es im Anschluss wieder bei den Anonymen Alkoholike­rn, nun in Varel. „Es fiel mir am Anfang sehr schwer. Aber als einer der Teilnehmer seine Lebensgesc­hichte erzählte, die sich genauso wie meine eigene anhörte, wusste ich, dass ich hier richtig bin.“Dieter S. lächelt. „Das hört sich jetzt vielleicht sonderbar an, aber ich brauche diese Meetings so wie ich früher den Alkohol gebraucht habe.“

„Mehr Lebensqual­ität“

Seit sechs Jahren hat S. keinen Tropfen mehr angerührt. „Ich weiß, dass es nicht bei einem Glas bleiben würde, wenn ich jetzt zum Beispiel ein Bier trinken würde. Ich habe eine Krankheit, die nur zum Stillstand gebracht wurde. Sie ist nicht weg.“Die Angst vor einem Rückfall – sie ist sein Begleiter. „Ich möchte diese Art des Kontrollve­rlusts nie wieder erleben.“In den Augen des Rentners schimmern Tränen. Er schluckt und blickt in den Garten, in dem es üppig blüht. Insekten summen, ein Vogel singt sein Lied. „Früher habe ich kein Vogelgezwi­tscher gehört. Sie ahnen gar nicht, wie viel Lebensqual­ität ich gewonnen habe, seit ich mich nicht mehr betrinke.“Dieter S. greift zur Kaffeetass­e. Und zur Zigarette. „Jetzt müsste ich mir nur noch das Rauchen abgewöhnen.“

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BILD: ARNO BURGI/DPA

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