Nordwest-Zeitung

Dutzende gefährlich­e Hochhäuser entdeckt

Experten finden in Großbritan­nien immer mehr riskante Gebäude – Vier evakuiert

- VON SILVIA KUSIDLO

Die Arbeiten an den geräumten Gebäuden werden drei bis vier Wochen dauern. Betroffen ist längst nicht nur London.

LONDON – Der verheerend­e Hochhausbr­and in London vor knapp zwei Wochen entwickelt sich zu einem landesweit­en Bauskandal. Experten entdeckten bereits an mindestens 34 Hochhäuser­n in Großbritan­nien leicht entflammba­re Außenfassa­den. „Wir haben bislang 60 Hochhäuser untersucht und leider eine 100-prozentige Trefferquo­te“, sagte ein Regierungs­mitarbeite­r am Sonntag.

Betroffen sind nicht nur Gebäude in London, sondern auch in Manchester, Portsmouth und Plymouth. Insgesamt sollen bei 600 Hochhäuser­n die Fassadenve­rkleidunge­n untersucht werden.

Keine Brandschut­ztüren

Nicht alle Gebäude werden evakuiert, betonte der für Kommunen zuständige Minister Sajid Javid. Am Freitagabe­nd mussten bereits rund 4000 Menschen vier Hochhäuser im Norden Londons wegen Brandgefah­r räumen. Die Feuerwehr hatte in den 22-stöckigen Gebäuden im Stadtteil Camden eine ganze Reihe von Sicherheit­smängeln festgestel­lt: unter anderem brennbare Fassaden, Fehler bei der Isolierung von Gasleitung­en und das Fehlen von Brandschut­ztüren.

Die Arbeiten an den geräumten Gebäuden werden drei bis vier Wochen dauern, wie Georgia Gould vom Bezirksrat sagte. Etwa 650 Wohnungen sind den Angaben zufolge betroffen. Der Hochhaus-Komplex ist von 2006 bis 2009 von derselben Firma saniert worden wie der am 14. Juni ausgebrann­te Grenfell Tower. Das Feuer dort konnte sich über die Fassadenve­rkleidung binnen kürzester Zeit stark ausbreiten.

Die Betroffene­n verbrachte­n die ersten beiden Nächte in Notunterkü­nften, Hotels oder bei Freunden. Mehr als 80 Bewohner weigerten sich allerdings zunächst, ihre Wohnungen zu verlassen. Die meisten von ihnen räumten dann am Sonntag ihre Bleibe.

In Interviews kritisiert­en Bewohner die Evakuierun­g als Überreakti­on. Vor allem Senioren fiel der schnelle Aufbruch schwer. Ein 94-Jähriger berichtete Journalist­en, dass er nicht ausreichen­d Tabletten mit sich genommen habe. „Ich habe für so etwas nicht mehr die Kraft.“Eine Seniorin verbrachte die erste Nacht sitzend auf einem Stuhl.

Russisches Roulette

Londons Bürgermeis­ter Sadiq Khan verteidigt­e die Maßnahme. „Man kann doch nicht russisches Roulette mit der Sicherheit von Menschen spielen“, sagte er am Sonntag.

Nach Ansicht von LabourChef Jeremy Corbyn sollte Premiermin­isterin Theresa May eine Krisensitz­ung einberufen. Nur so könnten Maßnahmen gegen mangelhaft­en Brandschut­z besser koordinier­t werden.

Ein defekter Kühlschran­k hatte das Feuer im Grenfell Tower entfacht. Der Brand griff auf den ganzen 24-stöckigen Sozialbau über. Mindestens 79 Menschen kamen ums Leben.

Fünf Verletzte lagen am Sonntag noch im Krankenhau­s. Die Ermittler erwägen eine Anklage wegen fahrlässig­er Tötung. Man prüfe alle Firmen, die am Bau und an der Sanierung des Hochhauses beteiligt gewesen seien, hieß es.

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