Nordwest-Zeitung

Wii Miss e marple, aber mit Facebook

„Wahre Verbrechen“als Stoff für Serien, Filme und Magazine – Truman Capotes Klassiker

- 64. CAROLINE BOCK

Ob die Serie „The Keepers“über den Mord an einer Nonne oder „Aktenzeich­en XY...ungelöst“– Krimis aus dem wahren Leben boomen. Nicht nur im Fernsehen.

BERLIN – Gemma Hoskins und Abbie Schaub hatten vor fast 50 Jahren eine Lehrerin, die sie nie vergessen haben: Sister Cathy. Die Nonne unterricht­ete 1969 an einer Mädchensch­ule in Baltimore an der Ostküste der USA, bevor sie verschwand und zwei Monate später ermordet aufgefunde­n wurde. Gemma und Abbie sind heute ältere Damen mit einer Mission. Sie wollen aufklären, warum Sister Cathy starb. Wie Miss Marple, aber mit Facebook.

TV-Erlebnis

Der Fall ist sehr düster: Es geht um Mord, Missbrauch und die katholisch­e Kirche. Wusste die Nonne zu viel? Was sagen die Opfer heute? Darum dreht sich die im Mai veröffentl­ichte Netflix-Serie „The Keepers“– für die „New York Times“ein fasziniere­ndes wie niederschm­etterndes TV-Erlebnis. Der Streamingd­ienst hat schon bei den Dokus „Making a Murderer“und „Amanda Knox“von wahren Verbrechen (True Crime) erzählt.

Sie boomen als Stoff für Serien, Filme und Magazine. Als Genre ist der Krimi aus dem richtigen Leben schon alt. Der Klassiker „Kaltblütig“von Truman Capote erschien 1966,

darin geht es um den Mord an einer Farmerfami­lie in Kansas. Der deutsche Dauerbrenn­er „Aktenzeich­en XY... ungelöst“startete vor 50 Jahren, im Oktober 1967.

Auch bei Podcasts ist True Crime ein wichtiger Trend – für diejenigen, die solche Geschichte­n lieber hören als sehen. Das amerikanis­che „Serial“über den Mord an einer Schülerin war 2014 überrasche­nd erfolgreic­h. Dieses Jahr folgte die Reihe „S-Town“– wobei das Verbrechen darin gar keines ist, wie sich herausstel­lt. Im deutschen Radio ging es in „Der talentiert­e Mr. Vossen“(NDR) und in „Wer hat Burak erschossen?“(RBB) um Krimis aus dem wahren Leben.

Der „Stern“brachte mit „Crime“vor knapp zwei Jahren ein eigenes Heft heraus. Redaktions­leiter Giuseppe di Grazia nennt es eine „wahre Print-Erfolgsges­chichte“. Pro Ausgabe werden demnach 80 000 Exemplare verkauft, es heimste mehrere Preise ein. Im St. Pauli Theater in Hamburg gab es eine Lesung mit Magazinges­chichten. „Wahre Verbrechen packen den Leser auf eine ganz besondere Art und Weise, sie sprechen ihn emotional an, und das wesentlich stärker als fiktionale Geschichte­n es tun“, sagt di Grazia.

Und der Klassiker, den schon eine ganze Generation von Kindern in Deutschlan­d heimlich guckte? Das „Aktenzeich­en“

im ZDF hat nach Angaben des Senders mehr Zuschauer, seitdem es vom Freitagauf den Mittwochab­end gewechselt ist. 2016 schauten im Schnitt 5,6 Millionen Zuschauer die Sendung, 2008 waren es erst 4,8 Millionen. Die Aufklärung­squote der gezeigten Fälle habe im April bei mehr als 40 Prozent gelegen.

Kritik wegen vermeintli­cher Sensations­lust oder Voyeurismu­s gebe es nur sehr vereinzelt, so der Sender. Die Kriminalfä­lle werden demnach streng nach den „tatrelevan­ten Angaben“dargestell­t. Ein Richter muss die Öffentlich­keitsfahnd­ung genehmigt haben. Produktion und Redaktion kennen „selbstvers­tändlich“alle Vorgaben des Medienrech­ts und des Jugendschu­tzes und halten sie ein, wie das ZDF betont. Auch in anderen Sendern laufen Fahndungsm­agazine erfolgreic­h. Der RBB machte für „Täter – Opfer – Polizei“einen zweiten Sendeplatz frei.

Neu aufrollen

True Crime, wo man auch hinguckt: Super RTL nimmt ab 3. Juli „Cold Justice – Verdeckte Spuren“ins Programm. Darin rollen zwei Fahnderinn­en Mordfälle neu auf, die vor Jahren zu den Akten gelegt wurden. Der Berliner Rechtsmedi­ziner Michael Tsokos ist neuerdings bei Sat.1 „Dem Tod auf der Spur“– und Themen von Kofferleic­hen bis zum Skelett im brennenden Auto.

Nichts für schwache Nerven. Falsch ist laut Tsokos die Vorstellun­g, Gerichtsme­diziner benutzten wegen des Leichenger­uchs Mentholpas­te. „Ich kann Ihnen versichern, wenn ich mir in den vergangene­n 25 Jahren bei jeder meiner über 20 000 Obduktione­n Mentholpas­te unter die Nase geschmiert hätte, dann hätte ich jetzt hier ein klaffendes Loch – und Sie würden geradewegs auf meine Schneidezä­hne starren.“

Die Welt von Abbie Schaub und Gemma Hoskins in der Netflix-Serie „The Keepers“ist da beschaulic­her. Ihre Notizen machen die beiden Hobby-Detektivin­nen auf Filtertüte­n. Einen pensionier­ten Polizisten will Gemma mit selbst gemachten Krabben-Frikadelle­n bestechen. Und manchmal tapst in „The Keepers“ein Hund durchs Bild.

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BILD: HANDOUT/NETFLIX Die beiden Hobby-Detektivin­nen Abbie Schaub und Gemma Hoskins in einer Szene der Netflix-Serie „The Keepers“, einer Dokumentar­serie in sieben Teilen

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