„Keine Zeit für Wehmut“
FRAGE: Henn Ströbele, Sie sind 78 Jahre alt, leiden an Krebs, arbeiten aber immer noch zwölf Stunden am Tag für die Politik. Was treibt Sie so stark an? STRÖBELE: Ja, die Tage sind wahnsinnig lang. Um Weihnachten herum hatte ich zum letzten Mal ein Mittagessen! Was mich treibt, ist, dass ich meine Arbeit mit vollem Einsatz machen muss. Ich will im Bundestag etwas erreichen, habe einen Auftrag von den Wählerinnen und Wählern, den ich zu erfüllen versuche. Auch wenn es schwer fällt. Ich kann mein Ziel nicht aufgeben, die Gesellschaft zu verändern, zu verbessern. FRAGE: Im Bundestag geht die Zeit für sie nun zu Ende, nach 21 Jahren mit zwischenzeitlicher Unterbrechung. Was überwiegt, Wehmut oder Erleichterung? STRÖBELE: Ich bin noch voll in Action und habe keine Zeit für Wehmut. Ich bin froh, wenn ich morgens aus dem Bett komme, um mich wieder in die Arbeit zu stürzen. Nur selten ertappe ich mich dabei zu denken: Mensch, das ist jetzt Deine letzte Sitzungswoche! FRAGE: Sie sind immer Ihrem Gewissen gefolgt, halten nichts .om Fraktionszwang: Fehlen in der Politik heute Querköpfe wie Sie? STRÖBELE: Ich habe mich nie wie ein einsamer Wolf gefühlt, ich hatte, auch wenn ich nicht auf Linie war, 40 Prozent der Delegierten auf Parteitagen hinter mir. Zuweilen sogar die Mehrheit. Aber es ist richtig: Die Politiker mit einem eigenen Kopf, die ihren persönlichen Überzeugungen treu bleiben, scheinen weniger zu werden. Für mich ist Politik kein Beruf wie jeder andere, sondern eine Berufung. Der Wille, seine Überzeugungen umzusetzen, auch wenn es sehr, sehr lange dauern kann. FRAGE: Was empfinden Sie als schönsten persönlichen Erfolg? STRÖBELE: Da muss ich nicht lange überlegen. Es war der Gewinn des Direktmandats in FriedrichshainKreuzbergLPrenzlauer Berg Ost im Jahr 2002, als mich meine Partei auf keinen aussichtsreichen Listenplatz gesetzt hatte. Der Wahlkampf schien vollkommen aussichtslos. Niemand hat mit mir gerechnet. Es war das erste Direktmandat für die Grünen. Kann man eine größere Bestätigung als Parlamentarier bekommen? Nein!