Demografie als Kaffeesatzleserei
Wie die Politik bloße Behauptungen für die Rentendebatte nutzt
Für einen richtigen Aufreger hat unlängst der Freiburger Volkswirtschaftler Professor Dr. Bernd Raffelhüschen gesorgt. In einer „heute“-Sendung im ZDF propagierte er zur besten Sendezeit seine Vorstellungen von einer notwendigen Sanierung des Rentensystems, das er als „gnadenlos fair“bezeichnete: Späteres Eintrittsalter, weniger Auszahlung, Ergänzung durch eine kapitalbasierte Rente und so weiter, man kennt das von den Vertretern der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), deren Mitglied auch der angeblich unabhängige Raffelhüschen ist.
Über die Auswahl so genannter Fachleute beim ZDF könnte man hinwegsehen. Weitreichender sind da schon die Vorstellungen des Professors über die demografische Entwicklung, die regelmäßig von der Politik als objektive Erkenntnis und dann als Begründung für weitere Einschnitte in die Sozialsysteme herangezogen werden. Denn was als wissenschaftliche Erkenntnis verkauft wird und zu ständigen Panikattacken bei Politikern führt, ist in Wahrheit nicht mehr als Kaffeesatzleserei. Die Behauptung, die demografische Entwicklung führe zwangsläufig zum sozialen (und auch wirtschaftlichen!) Kollaps, wenn nicht – siehe oben – durch Einschnitte gegengesteuert werde, ist weder logisch noch historisch
belegbar. Denn diese Entwicklung gab es bereits im vergangenen Jahrhundert, und sie hat bekanntermaßen nicht den wachsenden Wohlstand behindert.
Hauptfaktor der Belastung des Rentensystems ist nicht die demografische Entwicklung, also das Verhältnis von Jung und Alt, und der Umstand, dass die Alten immer älter werden. Sondern viel wesentlicher ist die Gegenüberstellung von Erwerbstätigen und Rentnern. Dann nämlich zeigt sich, dass die Arbeitslosigkeit einen deutlich größeren Einfluss auf die Rentenkasse hat als der demografische Faktor. Bei der Arbeitslosigkeit aber wird getrickst, sie wird schlicht kleingerechnet, weil die Statistik ansonsten ein breites politisches Versagen dokumentieren würde. Wir haben nicht 2,8 Millionen Arbeitslose, sondern an die vier Millionen Arbeitssuchende, die nicht nur als Einzahler in die Rentenkasse, sondern weitgehend auch dem Binnenmarkt fehlen. Hinzu kommen deutlich mehr als eine Million prekärer Arbeitsverhältnisse (Minijobber, Scheinselbständige), deren Einkünfte durch Hartz IVLeistungen aufgestockt werden.
Ein weiterer Faktor, nämlich die deutlich gewachsene Produktivität der Arbeit, wird in der Renten-Diskussion ebenfalls vollkommen ausgeblendet. Würde diese gestiegene Produktivität quasi eins zu eins in die Rentenfinanzierung einfließen, gäbe es gar kein Finanzierungsproblem. Tatsächlich jedoch haben die Arbeitnehmer in den zurückliegenden Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, von der höheren Produktivität nur wenig profitiert. Das Rentenproblem ist mithin auch ein Umverteilungsproblem.
Als schwerer Fehler erweist sich vor diesem Hintergrund auch die Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Renten, begünstigt durch die ständige Debatte über die angeblich verheerenden Auswirkungen des demografischen Wandels. Die Absenkung des Rentenniveaus bei gleichzeitiger Deckelung der Arbeitgeberbeiträge nimmt die Arbeitnehmer einseitig in die Pflicht, die Versorgungslücke im Alter allein zu schließen – ein Milliardengeschäft für die Versicherer, zu deren Lobbyvertretern – wer hätte das gedacht – auch der wackere Professor Raffelhüschen gehört.