Nordwest-Zeitung

Das IS-Kalifat zerfällt – doch die Gefahr bleibt

Die militärisc­hen Niederlage­n des Islamische­n Staates sind nicht das .nde der Bedrohung für die Welt

- VON JAN KUHLMANN UND ALEXANDER WILL

Es war nur eine von unzähligen Audio-Botschafte­n, die der Islamische Staat (IS) in den vergangene­n Jahren über das Internet verbreitet hat. Doch diese eine im Sommer 2014 sollte bei den Sicherheit­sfachleute­n weltweit besonderen Alarm auslösen.

In den Monaten zuvor hatten die Dschihadis­ten nicht nur riesige Gebiete im Bürgerkrie­gsland Syrien eingenomme­n, sondern auch große Teile des Iraks überrannt. Dort erstreckte sich ihr Herrschaft­sgebiet von der Millionens­tadt Mossul im Norden über die Wüstengebi­ete im Westen bis kurz vor die Tore der Hauptstadt Bagdad im Zentralira­k.

Und an diesem 29. Juni 2014 machte der – mittlerwei­le getötete – IS-Sprecher Abu Mohammed al-Adnani in einer Audiobotsc­haft deutlich, dass die Terrormili­z noch größere Pläne hatte: Al-Adnani verkündete im melodiösen Ton eines Koran-Rezitators die Errichtung eines „Islamische­n Kalifats“, eines eigenen Staates. Wenige Tage später zeigte sich IS-Chef Abu Bakr al-Bagdadi, der neue „Kalif Ibrahim“, bei einer Freitagspr­edigt in Mossul erstmals öffentlich. Spätestens da hatte der IS dem Terrornetz­werk Al-Kaida den Rang abgelaufen.

Doch zwischen dem Höhepunkt der Macht und dem Niedergang des sunnitisch­en IS liegen gerade einmal drei Jahre. Seit dem Beginn von Offensiven irakischer und syrischer Kräfte auf die Dschihadis­ten zerfällt das Kalifat. In Mossul haben Regierungs­truppen den IS in wenigen Vierteln der dicht bewohnten Altstadt eingekesse­lt. Von Kurden angeführte Einheiten drängen die Terrormili­z auch in der nordsyrisc­hen Stadt AlRakka immer weiter zurück. In beiden Städten dürfte ein militärisc­her Sieg gegen den IS nur noch eine Frage der Zeit sein.

Dennoch ist es zu früh, einen Abgesang auf den IS anzustimme­n. Mit Angriffen und Anschlägen in syrischen und irakischen Städten hat der IS zuletzt gezeigt, dass er sich wohl künftig auf eine Guerillata­ktik konzentrie­ren wird. Irak und Syrien bieten große unübersich­tliche Gebiete, in denen die IS-Kämpfer sich verstecken können. Oder sie tauchen einfach in der Zivilbevöl­kerung unter. Schon jetzt habe die Terrormili­z Schläferze­llen in irakischen Gebieten, sagt der frühere irakische Offizier Safa al-Ubeidi.

Der IS bleibt auch deshalb eine Gefahr, weil die Probleme, die ihn stark gemacht haben, nicht gelöst sind. Syrien ist ein zerfallene­r Staat, der radikalen Gruppen viele Machtvakue­n bietet. Im Irak fühlt sich die Minderheit der Sunniten noch immer von der Mehrheit der Schiiten diskrimini­ert. Der Konflikt dürfte sich sogar verschärfe­n, weil schiitisch­e Milizen mit der Mossul-Offensive tief in sunnitisch­es Gebiet vorgedrung­en sind – neuer Nährboden für den IS.

Auch in Westeuropa dürfte es noch Schläferze­llen des IS geben, und neue Radikalisi­erungen sind trotz der militärisc­hen Niederlage­n nicht ausgeschlo­ssen. Genau hier – auf ideologisc­hem Gebier – liegt die größte Gefahr nach der Beseitigun­g des Kalifates in Syrien und dem Irak. Überall auf der Welt gibt es salafistis­che Prediger, Moscheegem­einden und „Kulturzent­ren“. Dort sind eben jene Auslegunge­n des Islam quickleben­dig, die dem IS zu seinen spektakulä­ren Erfolgen verholfen haben. Es ist dies die Ideologie des Heiligen Krieges (Jihad), verbunden mit dem Hass auf die „Kreuzfahre­r“aus dem Westen, der Glaube an die natürliche Überlegenh­eit und weltweite Sendung des Islam und die Überzeugun­g, die Welt müsse nach „göttlichem Plan“, der im Koran offenbart wurde, funktionie­ren.

Zudem pflegen solche islamische­n Bewegungen einen ausgeprägt­en Märtyrerku­lt, der ihnen immer wieder Schwung verleiht und Anhänger zuführt. Es könnten also grade die Niederlage­n sein, die den IS zum Mythos machen. Angesichts der Situation in der Region ist daher nach dem Kalifat vor dem Kalifat.

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