Als das viele Wasser kam
Vor 20 Jahren brachen die Oder-Deiche – Ratzdorfer Pegelhäuschen erlangte Ber2hmtheit
Ratzdorf drohte in Fluten unterzugehen. Doch die Bewohner kämpften tage- und nächtelang und ließen sich auch durch einen Befehl nicht vertreiben.
RATZDORF – Das Pegelhäuschen auf seinem Pflastersockel ist der Blickfang am Oderufer in Ratzdorf. Touristen, die auf dem Oder-NeißeRadweg vorbei kommen, halten an und zücken Fotoapparat oder Smartphone. „Die Leute kennen es aus dem Fernsehen. Dabei ist das alles schon 20 Jahre her“, staunt Ute Petzel, ehrenamtliche Bürgermeisterin der brandenburgischen Gemeinde Neißemünde, zu der Ratzdorf am Zusammenfluss von Oder und Neiße gehört.
Damals, im Sommer 1997, stand das Pegelhäuschen plötzlich mitten in den Fluten und drohte aufgrund der Wassermassen unterzugehen. Ähnlich erging es den Ratzdorfern. Denn auf rund 1000 Metern klaffte eine Lücke im
Deich. Durch diese offene Flanke suchte sich das Hochwasser seinen Weg in den Ort, den ersten in Brandenburg, den die Oderflut nach verheerenden Überschwemmungen in Polen und Tschechien damals erreichte.
„Überall am Brandenburger Oderabschnitt wurden Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung getroffen, nur um uns kümmerte sich niemand“, kritisiert die 65-Jährige noch heute. Am Abend des 16. Juli 1997 zeigte die rote Digitalanzeige am Pegelhäuschen stündlich zehn Zentimeter mehr an. Am nächsten Tag stand der Pegel 3,50 Meter über Normal, und die ersten Gehöfte wurden von den Wassermassen eingeschlossen.
Ohne fremde Hilfe setzten die Ratzdorfer zur Gegenwehr an. Bauunternehmer Lutz Garkisch, dessen Haus erhöht am entgegengesetzten Ortsende des 335-Seelen-Dorfes steht, besorgte in Windeseile Kies, stellte schwere Technik bereit, ohne lange darüber nachzudenken, wer dafür die Kosten übernimmt. „Es ging um Nachbarschaftshilfe, im Dorf hält man eben zusammen“, erklärt er noch heute. Er glaubt, dass Ratzdorf „von den Behörden aufgegeben“worden wäre, hätten die Bewohner
nicht selbst zur Schaufel gegriffen. „Vom Kind bis zum Greis“, erinnert sich Bürgermeisterin Petzel, hätten alle mit angefasst, Sandsäcke im Akkord gefüllt, um provisorische Barrieren gegen die Flut aufzustapeln. Später verstärkten freiwillige Helfer und Feuerwehrleute aus umliegenden Orten die Hochwasser-Abwehr.
Insgesamt zwölf Anwesen jedoch mussten vor der Verteidigungslinie bleiben – dort hatte die Oder bereits die Oberhand gewonnen. Über schmale Holzstege kamen die Betroffenen damals nur noch zu ihren Häusern. Sie hatten keinen Strom mehr, nutzten mobile Dixiklos und duschten bei Nachbarn.
Zu ihnen gehörte Jacqueline Budras, die mit ihren Eltern erst im März 1997 das neue Haus direkt gegenüber dem Pegelhäuschen bezogen hatte. „Diese Erlebnisse und die Hilfsbereitschaft der Ratzdorfer werde ich nie vergessen“, sagt die 47-Jährige heute. Gemeinsam hätten sie damals gekämpft und sich nicht vertreiben lassen.
Nach Tagen des erschöpfenden Sandsack-Stapelns rund um die Uhr und bei Dauerregen war am 22. Juli der Evakuierungsbefehl des Katastrophenschutzes gekommen. Keiner vermochte zu sagen, wie lange der provisorische Deich halten würde. „Das Wasser stand eine Handbreit unter der oberen Sandsacklinie“, zeigt Petzel.
Der höchste Pegelstand von 6,88 Metern war am 24. Juli erreicht. Doch die Ratzdorfer hielten durch, gaben ihren Ort nicht auf, bis das Wasser Ende Juli schließlich allmählich zurückgegangen war. „Die Angst kommt jedoch zurück, sobald der Pegelstand steigt. So etwas will ich nicht noch einmal erleben“, sagt Budras und blickt auf die Digitalanzeige, die aktuell 2,29 Meter anzeigt.
Vor 20 Jahren schwamm die komplette untere Etage ihres Zuhauses in einer schmutzig-schlammigen Brühe. Inzwischen verläuft direkt vor Budras Wohnzimmerfenstern der Hochwasser-Schutzdeich, auf den die Ratzdorfer lange hatten warten müssen. Erst 2005 wurde die Deichlücke geschlossen. Fünf Jahre später hatte der Damm seine Bewährungsprobe: 6,30 Meter zeigte das wohl berühmteste Pegelhäuschen Deutschlands im Sommer 2010 an, damals erneut von der Oder umzingelt. Doch diesmal blieb Ratzdorf trocken.