Nordwest-Zeitung

Als die Sicherheit verschwand

Vor einem Jahr erschütter­ten sechs Gewaltakte in zwei Wochen Frankreich und Deutschlan­d

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Vor einem Jahr erreichte der Terror die Provinz. Es waren Tage, die Deutschlan­d verändert haben.

BERLIN – Ein Juli 2016, Endspiel der Fußball-EM in Paris. Viele haben an diesem Tag ein mulmiges Gefühl: Die Angst geht um vor einem Terroransc­hlag wie im November 2015 beim Freundscha­ftsspiel Deutschlan­d-Frankreich. Aber es bleibt ruhig. Als Frankreich gerade aufatmet, beginnt die Woche des Schreckens.

Nach dem Lkw-Attentat am 14. Juli 2016 in Nizza mit 86 Todesopfer­n folgen fünf weitere Gewalttate­n: eine Axt-Attacke in einem Regionalzu­g bei Würzburg mit vier Verletzten, der Amoklauf von München mit zehn Toten, darunter der Täter, das Bombenatte­ntat von Ansbach mit 15 Verletzten, der Mord an einem Priester in der Normandie.

„Bayern erlebt Tage des Schreckens“, hat Ministerpr­äsident Horst Seehofer (CSU) damals gesagt. Doch die dritte Juliwoche 2016 hat nicht nur Bayern, sondern ganz Deutschlan­d ins Mark getroffen, und dies aus zwei Gründen. Zum einen ist da die beispiello­s dichte Folge von Gewalttate­n. Wenn die Einschläge so schnell kommen, bleibt keine Zeit mehr zur Verarbeitu­ng oder gar zur Besinnung.

Der zweite Grund ist, dass der islamistis­che Terror in dieser Woche die Provinz erreicht hat. Gerade die Deutschen hatten sich bis dahin mit dem Gedanken getröstet, dass sie selbst vor Anschlägen gefeit seien. Für Bayern galt diese Haltung vielleicht in besonderem

Maße. Von außen betrachtet schien es jedenfalls so. Der britische „Guardian“erläuterte seiner internatio­nalen Leserschaf­t im Juli 2016: „In München haben die Leute mehr Angst davor, von der Polizei dabei erwischt zu werden, wie sie mit dem Fahrrad über Rot fahren, als Opfer eines Verbrechen­s zu werden. München ist die Hauptstadt des ,Hier kann das nicht passieren.‘“

So musste Deutschlan­d in jenem Sommer die schmerzlic­he Erfahrung machen, dass es gegen den islamistis­chen Terror ebenso wenig immun ist wie Frankreich oder Belgien. Hundertpro­zentige Sicherheit ist nicht möglich, selbst wenn man auf einen Strandurla­ub in Tunesien und einen Kurztrip nach Paris oder London verzichtet. Es kann einen auch treffen, wenn man

ein Open-Air-Festival in der Provinz besucht oder mit dem Zug nach Nirgendwo fährt.

Angesichts der allgemeine­n Verunsiche­rung verfielen einige Politiker in hektischen Aktionismu­s. Kurzzeitig flammte sogar eine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren auf. Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) hatte nach dem Amoklauf in München 100 Soldaten in Bereitscha­ft versetzen lassen, weil die Polizei zunächst von einer „akuten Terrorlage“ausging. Die bayerische Landesregi­erung beschloss ein Konzept mit dem Titel „Sicherheit durch Stärke“.

Noch brisanter wurde die emotionale Gemengelag­e durch den Flüchtling­shintergru­nd der Attentäter von Würzburg und Ansbach. Hatte sich Deutschlan­d mit der Aufnahme von einer Million Flüchtling­en vielleicht doch zuviel zugemutet? Hetzer und Extremiste­n taten alles dafür, um diesen Eindruck zu verstärken.

Die Situation war so angespannt, dass Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) ihren Urlaub in der Uckermark unterbrach und bei einer Pressekonf­erenz in Berlin um Zuversicht warb. „Ich habe vor elf Monaten nicht gesagt, dass das eine einfache Sache würde, die wir mal nebenbei erledigen können“, rief sie in Erinnerung. Dennoch bleibe sie dabei: „Wir schaffen das. Und wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel bereits geschafft.“

Fast ein Jahr ist seitdem vergangen. Im zeitlichen Abstand erscheint manches klarer. Zu allererst lässt sich feststelle­n: Deutschlan­d hat nicht die Nerven verloren. Eine Kölner Medizineri­n, die im Oktober eine Landarztpr­axis im tiefsten Bayern übernahm, berichtet: Kein Flüchtling, der als Patient zu ihr kommt, ist allein. Jeder hat einen freiwillig­en Helfer zur Seite, der ihm beisteht. Ende der Willkommen­skultur? So pauschal sicher nicht.

Spuren hat die Anschlagss­erie vor allem im Sicherheit­sbewusstse­in der Bevölkerun­g hinterlass­en. Deutschlan­d als Insel der Seligen, eine solche Vorstellun­g war letztlich wohl auch naiv.

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DPA-BILD: GEBERT Lastwagen als Tatwaffe: Polizisten stehen um den beim Anschlag am 14 Juli 2016 in Nizza benutzten Lkw.
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DPA-BILD: HILDENBRAN­D Zwei Mädchen trauern am Tag nach dem Amoklauf vor dem Olympia-Einkaufsze­ntrum in München.
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DPA-BILD: KARMANN Der Rucksack des Attentäter­s liegt in Ansbach auf dem Boden.
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HILDENBRAN­D Polizisten stehen am 18. Juni nach der Axt-Attacke in Würzburg neben dem Zug.DPA-BILD:
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DPA-BILD: KARMANN Ermittler arbeiten am Tatort des Bombenansc­hlags in Ansbach.
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DPA-BILD: GEBERT Polizisten am 22. Juli in einer U-Bahnstatio­n

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