Als die Sicherheit verschwand
Vor einem Jahr erschütterten sechs Gewaltakte in zwei Wochen Frankreich und Deutschland
Vor einem Jahr erreichte der Terror die Provinz. Es waren Tage, die Deutschland verändert haben.
BERLIN – Ein Juli 2016, Endspiel der Fußball-EM in Paris. Viele haben an diesem Tag ein mulmiges Gefühl: Die Angst geht um vor einem Terroranschlag wie im November 2015 beim Freundschaftsspiel Deutschland-Frankreich. Aber es bleibt ruhig. Als Frankreich gerade aufatmet, beginnt die Woche des Schreckens.
Nach dem Lkw-Attentat am 14. Juli 2016 in Nizza mit 86 Todesopfern folgen fünf weitere Gewalttaten: eine Axt-Attacke in einem Regionalzug bei Würzburg mit vier Verletzten, der Amoklauf von München mit zehn Toten, darunter der Täter, das Bombenattentat von Ansbach mit 15 Verletzten, der Mord an einem Priester in der Normandie.
„Bayern erlebt Tage des Schreckens“, hat Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) damals gesagt. Doch die dritte Juliwoche 2016 hat nicht nur Bayern, sondern ganz Deutschland ins Mark getroffen, und dies aus zwei Gründen. Zum einen ist da die beispiellos dichte Folge von Gewalttaten. Wenn die Einschläge so schnell kommen, bleibt keine Zeit mehr zur Verarbeitung oder gar zur Besinnung.
Der zweite Grund ist, dass der islamistische Terror in dieser Woche die Provinz erreicht hat. Gerade die Deutschen hatten sich bis dahin mit dem Gedanken getröstet, dass sie selbst vor Anschlägen gefeit seien. Für Bayern galt diese Haltung vielleicht in besonderem
Maße. Von außen betrachtet schien es jedenfalls so. Der britische „Guardian“erläuterte seiner internationalen Leserschaft im Juli 2016: „In München haben die Leute mehr Angst davor, von der Polizei dabei erwischt zu werden, wie sie mit dem Fahrrad über Rot fahren, als Opfer eines Verbrechens zu werden. München ist die Hauptstadt des ,Hier kann das nicht passieren.‘“
So musste Deutschland in jenem Sommer die schmerzliche Erfahrung machen, dass es gegen den islamistischen Terror ebenso wenig immun ist wie Frankreich oder Belgien. Hundertprozentige Sicherheit ist nicht möglich, selbst wenn man auf einen Strandurlaub in Tunesien und einen Kurztrip nach Paris oder London verzichtet. Es kann einen auch treffen, wenn man
ein Open-Air-Festival in der Provinz besucht oder mit dem Zug nach Nirgendwo fährt.
Angesichts der allgemeinen Verunsicherung verfielen einige Politiker in hektischen Aktionismus. Kurzzeitig flammte sogar eine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren auf. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte nach dem Amoklauf in München 100 Soldaten in Bereitschaft versetzen lassen, weil die Polizei zunächst von einer „akuten Terrorlage“ausging. Die bayerische Landesregierung beschloss ein Konzept mit dem Titel „Sicherheit durch Stärke“.
Noch brisanter wurde die emotionale Gemengelage durch den Flüchtlingshintergrund der Attentäter von Würzburg und Ansbach. Hatte sich Deutschland mit der Aufnahme von einer Million Flüchtlingen vielleicht doch zuviel zugemutet? Hetzer und Extremisten taten alles dafür, um diesen Eindruck zu verstärken.
Die Situation war so angespannt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihren Urlaub in der Uckermark unterbrach und bei einer Pressekonferenz in Berlin um Zuversicht warb. „Ich habe vor elf Monaten nicht gesagt, dass das eine einfache Sache würde, die wir mal nebenbei erledigen können“, rief sie in Erinnerung. Dennoch bleibe sie dabei: „Wir schaffen das. Und wir haben im Übrigen in den letzten elf Monaten sehr, sehr viel bereits geschafft.“
Fast ein Jahr ist seitdem vergangen. Im zeitlichen Abstand erscheint manches klarer. Zu allererst lässt sich feststellen: Deutschland hat nicht die Nerven verloren. Eine Kölner Medizinerin, die im Oktober eine Landarztpraxis im tiefsten Bayern übernahm, berichtet: Kein Flüchtling, der als Patient zu ihr kommt, ist allein. Jeder hat einen freiwilligen Helfer zur Seite, der ihm beisteht. Ende der Willkommenskultur? So pauschal sicher nicht.
Spuren hat die Anschlagsserie vor allem im Sicherheitsbewusstsein der Bevölkerung hinterlassen. Deutschland als Insel der Seligen, eine solche Vorstellung war letztlich wohl auch naiv.