Nordwest-Zeitung

WENDE IM STRAßENPOK­ER

G–spräche zwischen Stadt und Kläger – Viele Autofahrer missachten Sperrung

- VON MIRCO SENG

Im Juni war der Streit um die illegale Umgehungss­traße eskaliert. Jetzt sieht es nach einer Einigung aus, die Millionen kosten könnte.

BENSERSIEL/OLDENBURG – „Da kommt schon wieder einer.“Manfred Knake zeigt auf ein Auto, das sich schnell der Einmündung des Feldwegs nähert. Fassungslo­s. „Und da hinten noch einer.“Trotz Verkehrsze­ichen Nr. 250: „Durchfahrt verboten.“Illegales Fahren auf einer illegalen Straße.

Köln, Bottrop, Münster. Entweder taugen die Fahrschule­n in Nordrhein-Westfalen nichts oder die berühmtber­üchtigte Umgehung von Bensersiel lockt inzwischen sogar Touristen an. „Ich habe sie befahren.“Oder so. Und 20 Euro Bußgeld riskiert. Aber, es kontrollie­rt ja eh keiner.

Manfred Knake, verärgerte­r Naturschüt­zer, Koordinato­r des Wattenrate­s, hat den Landkreis Wittmund aufgeforde­rt, die Straße, die durch ein Vogelschut­zgebiet verläuft, mit Baken zu sperren. Doch Landrat Holger Heymann (SPD) sieht keine „rechtliche Handhabe“die Stadt Esens, zu der Bensersiel gehört, dazu anzuweisen. „Aus verkehrsre­chtlicher Sicht ist der derzeitige Zustand auch nicht als problemati­sch zu bewerten“, mailt Heymann zurück. „Das Verkehrsze­ichen, das die Einfahrt untersagt, steht und ist durch die Verkehrste­ilnehmer natürlich zu beachten.“

Seit dem 16. Juni ist die illegale Umgehungss­traße des Badeörtche­ns Bensersiel an der Nordsee nun gesperrt. Nach jahrelange­m Rechtsstre­it zwischen einem Landeigent­ümer, der für den Bau enteignet wurde, und der Stadt Esens. Auftakt zu einem neuen Schlagabta­usch im östlichen Ostfriesla­nd.

Schweigen vereinbart

Plötzlich mischen sich auch Vereine und Interessen­vertreter in die Debatte ein. Ein angeblich gestohlene­s Transparen­t für den Erhalt der Straße sorgt für Aufregung, ein spärliches Entschädig­ungsAngebo­t der Kommune für Empörung beim Kläger. Der Stadtrat ist sauer, fühlt sich übergangen.

ZDF, RTL und HAZ sagen sich an. Mehr von der Posse, die seit Jahren bundesweit für Schlagzeil­en sorgt, die eine Stadt, einen Kreis zum Gespött der Republik macht.

Am 30. Juni die überrasche­nde Wende im Straßenpok­er. Die Beteiligte­n sprechen persönlich miteinande­r, kommen sich offenbar näher und vereinbare­n Schweigen. Doch dazu später mehr.

Es ist Hochsaison in Bensersiel. Auch das Ruhrgebiet hat endlich Ferien. Im Örtchen herrscht Betrieb. Am Strand, am Hafen und auf dem Campingpla­tz wimmelt es von Touristen. Parkplätze werden langsam knapp. Sieht man einmal vom Verkehrsze­ichen Nr. 250 ab, deutet nichts auf das hin, was sich hier seit 17 Jahren abspielt. Drama und Komödie zugleich.

Im Jahr 2000 beginnt das Planfestel­lungs- und Flurberein­igungsverf­ahren für die Umgehungss­traße, der Landeigent­ümer, ein Jurist aus Dortmund, wird enteignet,

verliert rund sechs Hektar landwirtsc­haftlich genutzte Fläche. Naturschut­zverbände melden 2003 Bedenken an. Bensersiel­er Bürger und Geschäftsl­eute sammeln Unterschri­ften gegen den Bau der Straße, weil sie um Touristen fürchten. Der Wattenrat beschwert sich bei der EU-Kommission über die Planung der Straße in einem „faktischen Vogelschut­zgebiet“. Die EU weist Niedersach­sen 2006 an, das Schutzgebi­et von Norden bis nach Esens nachzumeld­en. Das Land kommt dem nach, spart aber die Planungsfl­äche der Umgehungss­traße aus. Eine fatale Trickserei.

Der Eigentümer, der eine Entschädig­ung fordert, geht vor Gericht, verliert aber 2008 einen ersten Prozess. Angeblich nur deshalb, weil der damalige Rechtsvert­reter der Stadt Esens behauptet, dass es in Bensersiel gar kein Vogelschut­zgebiet gebe.

Im April 2009 beginnt der Bau der 2,1 Kilometer langen „kommunalen Entlastung­sstraße Bensersiel“. Zwei Jahre später rollt der Verkehr. Baukosten: rund neun Millionen Euro, davon mehr als fünf Millionen Euro Fördermitt­el.

Doch die Freude währt nicht lange. Der Landeigent­ümer prozessier­t weiter und hat 2013 Erfolg. Das Oberverwal­tungsgeric­ht (OVG) Lüneburg erklärt den Bebauungsp­lan Nr. 72 der Stadt Esens für „rechtsunwi­rksam“. Ein Jahr später urteilt das Bundesverw­altungsger­icht in Leipzig, dass die unzulässig­e Straßenpla­nung im faktischen Vogelschut­zgebiet nicht durch nachträgli­che Gebietsmel­dung „geheilt“werden kann.

2015 hebt das OVG Lüneburg auch die Enteignung auf. Das Land muss die Flächen

zurückgebe­n. Die Straße gehört seitdem dem erfolgreic­hen Kläger. Der Abriss droht.

Stadt und Kreis versuchen, mit einem neuen Bebauungsp­lan die Umgehung zu retten.

Aus dem EU-Vogelschut­zgebiet wird im Oktober 2016 das Landschaft­sschutzgeb­iet „Ostfriesis­che Seemarsch zwischen Norden und Esens“. In Paragraf 3 der Landschaft­sschutzver­ordnung verbietet der Kreis Wittmund das Befahren von nicht-öffentlich­en Straßen. Die Umgehung von Bensersiel muss damit zwingend gesperrt werden.

„Wir brauchen eine Umgehungss­traße! Denn wir leben und arbeiten hier!“, steht am Tag der Straßenspe­rrung auf Transparen­ten an den Ortseingän­gen. Der Verein „Bensersiel aktiv“und der Kurverein Esens-Bensersiel fürchten Blechlawin­en im Badeort und protestier­en. Transparen­te werden nachts herunterge­rissen oder entwendet. Die Vereine erstatten Anzeige.

Beide werfen dem Eigentümer vor, den ganzen Ort wegen seiner Interessen in „Geiselhaft“zu nehmen. Was der Kläger empört zurückweis­t. Die Vereine seien bewusst falsch informiert worden. Der pensionier­te Richter lehnt ein Angebot der Stadt ab, ihm eine Entschädig­ung von 500 000 Euro zu zahlen: nicht angemessen, eine Zumutung.

Der Streit erreicht einen neuen Höhepunkt. Eiszeit. Nichts geht mehr. Oder?

„Wir sind sehr erfreut darüber, dass wir die Parteien schnell zusammenge­bracht haben“, sagt Hermann Kettwich, Vorsitzend­er des Kurvereins Esens-Bensersiel. Bei einer Tasse Tee im Rathaus in Esens. In „angenehmer Atmosphäre“. Das Wunder von Ostfriesla­nd?

Was genau hat den Umschwung bewirkt? Kettwich erzählt von einem Anruf des Eigentümer­s, von einem Treffen mit „Bensersiel aktiv“am 29. Juni. „Wir alle haben ein Interesse an einer Lösung.“

Nur einen Tag später kommt es zum Gipfel in Esens. Das Eigentümer-Ehepaar trifft sich mit Stadtdirek­tor Harald Hinrichs (parteilos), Bürgermeis­terin Karin Emken (SPD) und Vertretern der beiden Vereine.

Was dabei besprochen wurde? Soll geheim bleiben. Von Seiten des Klägers ist zu hören, dass „absolutes Stillschwe­igen“vereinbart wurde. Hinrichs und Emken sind nach Diktat verreist. Der stellvertr­etende Stadtdirek­tor Herwig Hormann verweist auf „laufende Verhandlun­gen“. Keine Auskunft. „Wir sind außen vor“, sagt Kettwich.

Vier Millionen Euro?

Doch Bensersiel wäre kein Dorf, wenn nichts durchsicke­rn würde. Die Stadtverwa­ltung soll für den Rat eine Vorlage für ein annehmbare­s Entschädig­ungsangebo­t vorbereite­t haben, heißt es. Die Rede ist von vier Millionen Euro. Eine Summe, die seit 2009 im Gespräch ist. Dabei soll es damals nicht nur um den Kauf der sechs Hektar Straßentra­sse gegangen sein, sondern zusätzlich um den Erwerb einer weiteren Fläche von etwa acht Hektar durch die Stadt. Woher das Geld für den Kauf kommen soll, bleibt unklar. Vom Land möglicherw­eise?

Im Gegenzug dafür soll der Landeigent­ümer alle noch anhängigen Klagen zurückzieh­en: gegen die Stadt Esens wegen der unrechtmäß­igen Enteignung und der unzureiche­nden Sperrung der Straße sowie gegen den Landkreis Wittmund wegen der möglichen fehlerhaft­en Abgrenzung des Landschaft­sschutzgeb­ietes 2016.

Ob der Stadtrat den Plänen zustimmt? Vor allem zwei

SPD-Ratsherren gelten seit Jahren als erbitterte Gegner einer Entschädig­ung für den Landeigent­ümer. Und auch Erwin Schultz von der Gruppe „Bündnis Zukunft Esens“ist skeptisch. „Von einer Einigung kann keine Rede sein.“

Schultz ist verärgert darüber, dass Telefonate von Geschäftsl­euten aus Bensersiel offenbar mehr Gewicht haben als die Bemühungen von Ratsmitgli­edern. „Ein unglaublic­her Affront gegen das Verfassung­sorgan Stadtrat.“Schultz fühlt sich offenbar auch durch den Eigentümer getäuscht. „Es wird teuer für die Bürger, so oder so.“

Vögel bleiben weg

An der Umgehungss­traße ist es bis auf einige „Falschfahr­er“ruhig. Vögel sind im Vogelschut­zgebiet kaum zu sehen, geschweige denn zu hören. Hinter einem kleinen Schilfgürt­el beginnen sofort die landwirtsc­haftlich genutzten Wiesen und Äcker. Ein Gutachten belegt die fatalen Folgen des Straßenbau­s für die Vogelwelt. Auch die intensive Nutzung des Gebiets wirkt sich offenbar aus. „Die Wiesenbrüt­er sind weg“, sagt Manfred Knake, der fürchtet, dass es bei einem Deal zwischen Stadt und Kläger am Ende nur einen Verlierer gibt: den Naturschut­z.

„Es gäbe dann keinen absehbaren Kläger mehr gegen die Nutzung oder für den Rückbau der eindeutig rechtswidr­ig gebauten Straße.“Die Gerichtsur­teile hätten weiterhin Bestand, würden aber auch weiterhin missachtet.

„Die Stadt Esens würde sogar noch für ihre unglaublic­he Dreistigke­it der Missachtun­g von europäisch­em Naturschut­zrecht und der rechtswidr­igen Durchsetzu­ng des Baus der Umgehungss­traße als Sieger in dieser Sache hervorgehe­n.“Für die enormen Anwalts- und Gerichtsko­sten von inzwischen etwa 350 000 Euro müsse der Steuerzahl­er aufkommen.

Ach, fällt Knake noch ein. Die Umgehungss­traßen von Neuharling­ersiel und Neßmersiel seien genauso illegal ins gleiche Vogelschut­zgebiet gebaut worden. Nur, dass es da keine Kläger gebe. „Wrumm“– wieder rauscht ein Auto vorbei.

„Es wird teuer für die Bürger, so oder so.“

ERWIN SCHULTZ, RATSHERR IN ESENS

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BILD: MARCO SENG Das Verkehrsze­ichen Nr. 250 ist eindeutig, zumindest für Manfred Knake vom Wattenrat. Viele Autofahrer nutzen die illegale Umgehungss­traße von Bensersiel aber trotz Verbots weiterhin.
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BILD: JOACHIM ALBERS Die Umgehungss­traße führt in einem Bogen um das Badeörtche­n an der Nordsee herum.

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