Nordwest-Zeitung

Flaneure kennen weder Ziel noch Zeit

Nicht nur die Fußgängerz­one hat sich verändert, sondern auch die meisten Passanten

- VON SABINE SCHICKE

Als die Fußgängerz­one gepflaster­t wurde, hatte man noch mehr Zeit. Niemand schaute ständig auf sein Handy oder hatte Angst, etwas zu verpassen.

OLDENBURG – Seit dem 1. August 1967 gehört das Herz der Stadt den Fußgängern. Mit diesem Satz hatte die Serie zum 50. Geburtstag der Fußgängerz­one begonnen. Doch nicht nur die Innenstadt, auch die Fußgänger haben sich in dem vergangene­n halben Jahrhunder­t auf dem neuen Pflaster ganz schön verändert.

1967 traf man noch Leute, die nicht von Bürgerstei­g, sondern von Trottoir sprachen, neben dem die Autos hupten. Manche trugen noch Hut und Handschuhe. Die Zeit der totalen Beschleuni­gung und Verdichtun­g des Lebens hatte vielleicht gerade erst begonnen, aber nicht in der neuen Fußgängerz­one in Oldenburg. Das Lebensgefü­hl war noch nicht „puh, gerade Blick in eine andere Zeit: Fahrräder wurden am Rand der Lange Straße abgestellt und Fußgänger hatten Zeit. Zwischen den Autos schaffte man es in den 60ern schlendern­d über die Straße – wie hier am Lefferseck.

Lamberti. Sie lungerten herum wie später die Schüler am Lefferseck oder im Herbartgan­g. Denn sie tranken ihren Kaffee aus der Porzellant­asse mit Muße und nicht im Pappbecher to go.

Auf sie wartete kein wichtiges Meeting. Damals war es noch anders: Wer Zeit zum Lustwandel­n hatte, der war reich. Konnte es sich leisten, Zeit auf Bürgerstei­gen vergehen zu lassen. Ein Flaneur streift ohne Ziel durch die Fußgängerz­one. Er flaniert um des langsamen Ganges wegen und um der Gelegenhei­ten willen, die er entdeckt. Kontemplat­ives Gehen könnte man das vielleicht nennen – und das mitten in der Stadt.

„Die Entdeckung der Langsamkei­t“würde Sten Nadolny

erst 1983 schreiben. Als die Fußgängerz­one eingeweiht wurde, da war man nicht mit den Gedanken schon am Ziel, während man gerade noch anderswo lief. Die To-Do-Liste harrte auch noch ihrer Erfindung. Allenfalls Vergesslic­he schrieben sich eine Einkaufsli­ste, damit sie nicht erst im Pekol-Bus nach Hause merkten, dass sie die Nähseide in der Kurzwarena­bteilung vergessen hatten.

Als die Fußgängerz­one gepflaster­t wurde, war der Begriff „Deichmanni­sierung“noch nicht erfunden, der all die austauschb­aren Ketten in den immergleic­hen Innenstädt­en beschreibt. Der Flaneur hatte Muße für die Schönheit der Schaufenst­er und für einen Schwatz mit Fußgänger haben hier in der Lange Straße erstmals das Vorrecht – ein Blick Richtung Lefferseck.

den Inhabern, denn die waren alle auf ihre Art besonders, wie sie es eben auch heute noch sind, wenn die Oldenburge­r Fußgängerz­one Geburtstag feiert.

Ist nicht der größte Luxus, Zeit zu verschwend­en statt ihr hinterherz­uhetzen, zumal wenn einem die ganze Straßenbre­ite von Schaufenst­er zu Schaufenst­er in der Fußgängerz­one gehört? Niemals zu überlegen, welches der kürzeste Weg zwischen Lappan und Lamberti in dieser Fußgängerz­one ist, sondern immer den schönsten zu wählen. Und ja, diese Wahl ist immer subjektiv.

Die Fußgängerz­one feiert den 50. Geburtstag. Wie wird es sein, wenn sie ihren 100. Geburtstag feiert? Werden

dann nur noch selbstfahr­ende Autos im Parkhaus Waffenplat­z stehen? Werden dann die Passanten wieder mehr Zeit haben, weil dann die künstliche Intelligen­z vieles regelt? Doch erst einmal wird gefeiert – mit Beat und Beethoven. (Ende der Serie)

@ Mehr Bilder und Berichte unter wwwnwzonli­ne.de/ fussgaenge­rzone

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BILD: ARCHIV ISENSEE
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BILD: NWZ ARCHIV
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BILD: NWZ-ARCHIV

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