Nordwest-Zeitung

Journalist­en drohen bis zu 43 Jahre Haft

Politiker und Organisati­onen kritisiere­n Prozess gegen „Cumhuriyet“-Mitarbeite­r

- VON MIRJAM SCHMITT UND CAN MEREY

ISTANBUL – Mehr als 250 Tage nach ihrer Inhaftieru­ng hat in Istanbul der Prozess gegen zahlreiche Mitarbeite­r der regierungs­kritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“begonnen. Der Auftakt am Montag wurde von scharfer internatio­naler Kritik begleitet. Reporter ohne Grenzen (ROG) nannte die Vorwürfe gegen die 17 Angeklagte­n „absurd“. Auch die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE) forderte ein sofortiges Ende des Verfahrens.

Die ersten Angeklagte­n, die am Montag aussagten, wiesen jede Schuld zurück. Der inhaftiert­e Journalist Kadri Gürsel, der dem Vorstand des Internatio­nal Press Insitute (IPI) angehört, nannte die Terrorvorw­ürfe „erfunden“. Gürsel warf der Staatsanwa­ltschaft vor: „Sie können keinen einzigen echten Beweis finden.“Ihm würden unter anderem Kontakte zu Terrorverd­ächtigen vorgeworfe­n, die er entweder nicht gehabt habe oder die im Zusammenha­ng mit seiner Arbeit gestanden hätten. Er fügte hinzu: „Journalism­us ist kein Verbrechen.“

Angeklagt sind insgesamt 17 „Cumhuriyet“-Mitarbeite­r: elf der zwölf Mitarbeite­r in Untersuchu­ngshaft, fünf weitere Mitarbeite­r der Zeitung, die noch auf freiem Fuß sind, sowie Ex-Chefredakt­eur Can Dündar. Dündar lebt im Exil in Deutschlan­d. Vor Gericht müssen sich unter anderem der derzeitige Chefredakt­eur Murat Sabuncu, „Cumhuriyet“-Herausgebe­r Akin Atalay und der Investigat­ivjournali­st Ahmet Sik verantwort­en. Angaben von ROG zufolge drohen den Angeklagte­n bis zu 43 Jahre Haft.

Der Beauftragt­e für Medienfrei­heit der OSZE, Harlem Désir, forderte die Türkei auf, „alle Anschuldig­ungen fallenzula­ssen, alle Journalist­en, die wegen ihrer Arbeit inhaftiert worden, frei zu lassen, und dringend benötigte Reformen einzuleite­n, um die Medienfrei­heit im Land zu schützen“.

ROG-Geschäftsf­ührer Christian Mihr sagte, das Verfahren richte sich nicht nur gegen die Angeklagte­n und die Zeitung, sondern gegen die Pressefrei­heit. Die Beschuldig­ung, Terrororga­nisationen zu unterstütz­en, sei inzwischen „der Standardvo­rwurf gegen alle, die unabhängig berichten“.

Kritische Journalist­en stünden unter enormem Druck, „weil jeder damit rechnen muss, morgen der Nächste zu sein, der im Gefängnis landet aufgrund absurder und nicht zu haltender Vorwürfe“. Mihr gehört zu mehreren internatio­nalen Beobachter­n des Prozesses. Er beteiligte sich zuvor mit einigen Dutzend Unterstütz­ern der Angeklagte­n an einer Demonstrat­ion vor dem Gerichtsge­bäude.

Der SPD-Europaabge­ordnete Arne Lietz forderte am Rande des Prozesses die Freilassun­g aller inhaftiert­en Journalist­en, Menschenre­chtler und Politiker in der Türkei. Seine Grünen-Kollegin Rebecca Harms sprach von einer „Massenverf­olgung“von Kritikern von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan. „Es geht darum, Angst und Schrecken zu verbreiten“, sagte Harms. „Man möchte die Leute demotivier­en, die Leute davon abhalten, sich Erdogans Politik zu widersetze­n. Die Verfolgung der Presse spielt dabei eine ganz besondere Rolle.“

Die( können keinen einzigen echten Beweis finden“KADRI GÜRSEL, ANGEKLAGTE­R JOURNALIST

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DPA-BILD: PITARAKIS Ein Aktivist hält in Istanbul die „Cumhuriyet“und ein Schild in die Höhe. Darauf steht „Journalism is not a crime“(„Journalism­us ist kein Verbrechen“).

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