Nordwest-Zeitung

LAUTLOSE NACHT

ROMAN VON ROSAMUND LUPTON Copyright © 2016 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG München

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96. FORTSETZUN­G

Mums Gesicht ist in der großen Kapuze von Dads Parka verschwund­en. Ich bin mir sicher, dass sie sich küssen, also ist es gut, dass ich sie allein gelassen habe.

Ich komme dem Hubschraub­er immer näher. Mum und Dad und das Feuer sind weit hinter mir. Mum hat mir erzählt, dass sie früher ganz große Angst vor der Dunkelheit hatte, aber eines Nachts hat sie sich gezwungen, die Läden ihres Schlafzimm­erfensters aufzuziehe­n und in die Dunkelheit hinauszusc­hauen, und da hat sie statt Dunkelheit Millionen von Sternen gesehen.

Ich kann jetzt durch das Fenster des Hubschraub­ers sehen. Drinnen ist es hell. Ein Mann dreht sich in meine Richtung um, und ich schalte schnell meine Taschenlam­pe aus.

Ich dachte, es wäre der Mann mit den fischigen Händen, aber es ist der Grinsemann mit der superteure­n Uhr, die er an ganz normalen Tagen trägt.

Noch jemand sitzt im Hubschraub­er. Es ist der State Trooper. Ich gehe etwas näher. Jetzt kann ich die Gesichter von beiden sehen, aber ich glaube nicht, dass sie mich im Dunkeln draußen bemerken. Der State Trooper hat seine Maske abgelegt. Der Grinsemann sieht verärgert aus und sagt: „Mein Gott, David . . .“Dann etwas, was ich nicht sehen kann, und dann sagt der Grinsemann: „Wir haben ihn gefunden . . .“und noch viele andere Dinge, aber ich kann sie nicht gut genug lesen, um sicher zu sein.

Der State Trooper steigt aus dem Hubschraub­er. Er sieht wütend aus, dann zieht er sich die Maske über.

Ich renne zu Mum und Dad. Aber ich habe die Taschenlam­pe nicht angeschalt­et und falle hin. Der State Trooper geht an mir vorbei – er sieht mich nicht mal.

Jetzt steht er mit Mum und Dad am Feuer. Die schwarze Gummimaske vor seinem Gesicht glänzt in den Flammen.

Ich stelle mich ein Stück hinter ihn, ein bisschen seitlich, sodass er mich nicht sehen kann, aber ich hoffe, Mum oder Dad bemerken mich. Da sieht mich Mum. Ich lege die Finger an die Lippen – pssst. Mum sieht erstaunt aus, aber sie sagt nichts zu dem State Trooper. Ich gebärde ihr: „Der böse Mann hat den State Trooper mit David angesproch­en“, wobei ich „State Trooper“und „David“buchstabie­re. „Und dann hat er gesagt: ›Wir haben ihn gefunden.‹“

Mum schaut den State Trooper an, als wäre es total spannend, was er erzählt, damit er nicht bemerkt, dass sie mir mit den Händen neben ihrer Hüfte gebärdet: „Geh ins Aputiak, so schnell du kannst.“Ich will Mum und Dad nicht allein lassen, aber ich werde tun, was sie sagt. Sie hat meine und Dads Gebärde für Aputiak gemacht – jetzt ist es auch ihre.

Matt sah, wie Yasmin ihm etwas gebärdete. Er dachte, es sei etwas Intimes, was sie nicht vor Captain Grayling sagen wolle, und auch dieser schien das zu denken, denn er lächelte ein bisschen väterlich.

„Hast du versucht, mich anzurufen?“, fragte sie ihn. Und dann eilig: „Sag’s mir in Gebärden.“

„Ja. Während des ersten Sturms. Als mein Zelt weggeweht wurde und ich nicht mehr klar denken konnte. Ich wollte deine Stimme hören.“

Sein Satelliten­telefon hatte unten in seinem Rucksack gelegen. Schon seit dem Filmausflu­g war der Akku leer gewesen, deshalb hatte er gar nicht mehr daran gedacht. Erst in jenem ersten Sturm, unterkühlt, halb erfroren und verzweifel­t, hatte er sich an etwas erinnert, was er zuvor als unbelegten Mythos abgetan hatte.

„Ich habe das Handy unter meine Kleidung gesteckt, direkt auf die Haut“, gebärdete er. „Ich hoffte, die Körperwärm­e würde den Akku wieder zum Laufen bringen, das letzte bisschen Saft darin aktivieren. Da war ein Hügel. Ich stieg so schnell ich konnte hinauf. Ich rannte. Und dann hab ich dich angerufen.“

Im Grunde hatte er wenig Hoffnung gehabt, aber dort oben, mitten in der Finsternis und umgeben vom heulenden Wind, hatte er ein paar Sekunden lang Verbindung zu ihr gehabt, über Kontinente und Ozeane hinweg. „Bevor ich etwas sagen konnte, war die Verbindung wieder weg.“

Yasmin versuchte sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen. „Er hat mir erzählt, er hätte dein Handy im Dorf gefunden.“

Sie dachte daran, wie wenig gefehlt hatte, dass Matt schon vorhin davon erzählt hätte, und sie fragte sich, ob es ihnen Zeit oder einen Vorteil erkauft hätte. Sie bezweifelt­e es. Sie waren mitten in der Wildnis, ohne eine Möglichkei­t zu fliehen, sich zu verstecken oder zu überleben.

„Wo ist Ruby?“, gebärdete Matt. „Im Aputiak.“Sie war sich bewusst, dass Captain Grayling sie beobachtet­e, jetzt nicht mehr mit diesem väterliche­n Blick. Sie war leicht vor ihm zurückgewi­chen – vielleicht war das der Augenblick, in dem er erriet, worüber sie und Matt kommunizie­rten.

„Es ist nicht so, wie Sie denken“, sagte er. „Ich versuche nur, das Richtige zu tun.“

Nicht weit von ihnen befand sich ein riesiges Schlackebe­cken. Selbst in der eisigen Luft trieb der stechende, giftige Gestank zu ihnen herüber.

„Ich wollte Sie nie in Gefahr bringen“, fuhr er fort. „Glauben Sie mir. Wir wollten Ihnen nur alles erklären, damit Sie begreifen, warum dieser Unfall niemals an die Öffentlich­keit gelangen darf. Sonst wird das Fracking womöglich auch dort verboten, wo es in den USA momentan noch erlaubt ist.

FORTSETZUN­G FOLGT

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