Folge eines Führungsversagens
Wirtschaftsethiker Nick Lin-Hi aus Vechta zur Krise der Autoindustrie
Die Autoindustrie kommt nicht zur Ruhe. Zusätzlich zum Diesel-Skandal macht nun auch noch der Vorwurf illegaler Absprachen die Runde. Unabhängig davon, ob die Absprachen rechtlich zulässig waren, verfestigt sich zunehmend das Bild einer Industrie, die es mit Spielregeln nicht ganz so genau nimmt. Gesetze, so scheint es, werden nicht als wertschaffend wahrgenommen, sondern als Restriktion. Eine solche Sichtweise bedingt ein permanentes Austesten von rechtlichen Grenzen, was wiederum eine schleichende Erosion von moralischen Standards in Unternehmen nach sich zieht.
Die Vorfälle in der wichtigsten deutschen Industrie sind nicht das Resultat einer Verkettung von unglücklichen Umständen oder von individuellem Fehlverhalten. Sie sind die Folge eines Führungsversagens. Die Autoindustrie hat es sich jahrelang in einer Parallelwelt gemütlich gemacht und die Augen vor der Realität verschlossen – letzteres nicht nur in Bezug auf das Rechtssystem, sondern auch im Hinblick auf eine vermeintliche technologische Überlegenheit. Nicht zuletzt ihre Größe und wirtschaftliche Relevanz für Deutschland dürften dabei ein Gefühl der Unbesiegbarkeit befördert haben, infolgedessen man sich immer mehr von der Realität entfernt hat. Der Preis dafür ist eine ungewisse Zukunft.
Mit ihrem Verhalten hat die Automobilindustrie ihr Vertrauen bei Mitarbeitern, Kunden, der allgemeinen Öffentlichkeit und weiteren Stakeholdern stark beschädigt. In der Wirtschaft ist allgemein bekannt, dass Vertrauenswürdigkeit zu den wichtigsten Vermögenswerten gehört – nicht umsonst formulierte Robert Bosch vor gut 100 Jahren: „Lieber Geld verlieren als Vertrauen.“Vertrauen ist die Basis für wertschaffende Stakeholderbeziehungen und beeinflusst erfolgsrelevante Faktoren wie Arbeitgeberattraktivität, Kundenzufriedenheit und Reputation. Da der Aufbau und das Wiedergewinnen von Vertrauen ein langwieriger Prozess ist, dürfte die deutsche Autoindustrie noch einige Zeit unter den Nachwirkungen der Ereignisse leiden.
Die Ereignisse wirken sich indes nicht nur negativ für die Akteure in der Autobranche aus, sondern sind auch eine Gefahr für Marktwirtschaft und Gesellschaft. Seit Jahren weisen Studien darauf hin, dass das Vertrauen in die Wirtschaft und ihre Akteure schwindet. Ein Grund hierfür ist dabei das Gefühl des Einzelnen, Marktwirtschaft und Unternehmertum würden nur einer kleinen Zahl von Privilegierten dienen, wohingegen die meisten Menschen unter diesen zu leiden hätten.
Die Vorkommnisse in der Autoindustrie leisten diesem Gefühl weiter Vorschub, zumal die Industrie aufgrund ihrer exponierten Stellung gewissermaßen die deutsche Wirtschaft repräsentiert. Die hier angesprochene gefühlte Bestätigung der moralischen Fragwürdigkeit der Marktwirtschaft unterminiert dabei nicht nur deren Akzeptanz, sondern ist auch ein Nährboden für Populisten aus verschiedenen Richtungen.
Unternehmen verweisen gerne auf die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft. In der Tat ist präsent zu halten, dass das marktwirtschaftliche System die Basis für gesellschaftlichen Wohlstand bildet und damit gleichsam für eine gute Gesellschaft. Ebenso ist zu betonen, dass die Marktwirtschaft nur unter geeigneten Spielregeln ihre gesellschaftliche Leistungsfähigkeit entfalten kann. Eine funktionierende Wettbewerbsordnung ist die Voraussetzung, dass die Marktwirtschaft im Dienste gesellschaftlicher Interessen steht. Bereits der Versuch, existierende Spielregeln zu umgehen, kann als ein Verhalten gewertet werden, das darauf abzielt, sich auf Kosten der Gesellschaft Vorteile zu verschaffen. Ein solches Verhalten untergräbt systematisch die gesellschaftliche Legitimität von Marktwirtschaft und Unternehmertum.
Die Autoindustrie ist gut beraten, sich die Bedeutung von Gesetzen und von regelkonformem Verhalten in Erinnerung zu rufen. Spielregeln sind ein Vermögenswert, und diese Sichtweise ist unternehmensintern zu verankern. Gelingt dies nicht, so werden Gesetze auch weiterhin als ungeliebte Restriktion verstanden, die es trickreich zu umgehen gilt. Ein solches Verständnis verhindert letztendlich die Wirksamkeit der bereits getätigten Compliance-Anstrengungen, und der nächste Skandal ist nur noch eine Frage der Zeit. Es liegt daher nun im Verantwortungsbereich der Führungselite, den notwendigen Kulturwandel im wohlverstandenen Eigeninteresse herbeizuführen.