Nordwest-Zeitung

Bürkischst­ämmige wollen Wahl meiden

Viele Einwandere­r haben sich deutschen Parteien entfremdet – SPD und Grüne leiden

- VON ANNE-BEATRICE CLASMANN

Gründe sehen Forscher auch in türkischer Regierungs­propaganda. Versuche, diese zu korrigiere­n, dringen in die Gemeinscha­ft nicht durch.

BERLIN – Nazi-Vergleiche, Verhaftung­en, Armenier-Resolution, Auftrittsv­erbote für Politiker – um das deutsch-türkische Verhältnis ist es so schlecht bestellt wie nie. Meinungsfo­rscher erwarten, dass der Dauerknats­ch zwischen Berlin und Ankara auch Einfluss auf den Ausgang der Bundestags­wahl haben wird.

Viele Wahlberech­tigte mit türkischen Wurzeln dürften der Wahl am 24. September fernbleibe­n. Sie fühlen sich von den deutschen Parteien nicht mehr verstanden und an den Rand gedrängt. Das hat auch damit zu tun, dass die meisten von ihnen ihre Informatio­nen über deutsche Politik aus türkischen Medien beziehen. Und die sind, was deutsche Parteien angeht, zurzeit auf Krawall gebürstet.

Das ist vor allem für die SPD und für die Grünen eine schlechte Nachricht. Sie waren bislang die bevorzugte­n Parteien der rund eine Million Deutschtür­ken, die in Deutschlan­d wahlberech­tigt sind. Das liegt vor allem daran, dass beide Parteien die Vorteile der Migration herausstre­ichen. Allerdings: Den Flüchtling­szustrom seit 2015 sehen auch Einwandere­r aus der Türkei kritisch.

„Wir rechnen diesmal mit einer deutlich geringeren Wahlbeteil­igung der Türkeistäm­migen“, erklärt Joachim Schulte von Data 4U, einem Institut, das sich auf Meinungsfo­rschung in ethnischen Zielgruppe­n spezialisi­ert hat. Bei einer Untersuchu­ng zur politische­n Beteiligun­g von in Bayern lebenden Menschen mit Migrations­geschichte stellte Schulte im Februar fest, dass diese Gruppe zurzeit „mit allen Parteien besonders wenig“übereinsti­mmt.

Ähnliche Ergebnisse lieferte eine bundesweit­e repräsenta­tive Befragung durch die Union Europäisch-Türkischer

Demokraten (UETD), der Europa-Filiale der türkischen Regierungs­partei AKP von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan. Dabei gaben 15 Prozent der Befragten an, sie wollten bei der Bundestags­wahl nicht wählen. 41 Prozent wussten noch nicht, ob sie zur Wahl gehen oder machten keine Angaben. Beim Rest

kam die Linke auf vier Prozent. Sechs Prozent der 1000 Befragten wollten die Grünen wählen, sieben Prozent die CDU. Die SPD kam auf 22 Prozent. Der Wert für die AfD tendiert gegen Null. Bei der zurücklieg­enden Europawahl hatten 54 Prozent ihr Kreuz bei der SPD gemacht, 19 Prozent bei den Grünen.

Das liegt vor allem an der Verabschie­dung der Armenier-Resolution im Bundestag im Juni 2016. Das Parlament hatte das blutige Vorgehen des Osmanische­n Reiches gegen die Armenier vor mehr als hundert Jahren als Völkermord eingestuft. Alle elf Abgeordnet­en mit türkischem Migrations­hintergrun­d bekamen so heftige Drohungen, dass sie unter Polizeisch­utz gestellt wurden. Auch der Streit um Wahlkampfa­uftritte türkischer Politiker in Deutschlan­d und der von Erdogan erhobene Vorwurf, Deutschlan­d sei ein Schutzraum für kurdische Terroriste­n und Unterstütz­er des Putschvers­uchs vom Juli 2016, fiel bei Deutschtür­ken auf fruchtbare­n Boden.

Die Versuche deutscher Politiker, diese Vorwürfe zu entkräften, erreichten diese Gruppe oft gar nicht. Meinungsfo­rscher Schulte erklärt: „Wir stellen einen Rückzug in die Community fest, der Konsum türkischer Medien hat bei den Türkeistäm­migen im letzten Jahr zugenommen. Er stieg von über 80 Prozent auf etwa 90 Prozent. Nur ein Drittel der Deutschtür­ken schaltet zumindest hin und wieder einen deutschen Sender ein.“

KOMMENTAR, SEITE 4

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DPA-BILD: KAISER Anhänger des türkischen Präsidente­n Erdogan warten im Juli 2016 in Köln auf den Beginn der Kundgebung.

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