Nordwest-Zeitung

Zwischen Medizin und Einstiegsd­roge

S–it einem halben Jahr gibt es legal Cannabis auf Rezept – Kritiker beklagen „Schnellsch­uss“

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Peter aus Bremen hat die Nervenkran­kheit Multiple Sklerose und konsumiert Cannabis – bislang gekauft auf dem Schwarzmar­kt. Ihm hilft es gegen seine Muskelspas­tik.

OLDENBURG/BREMEN/HANNOVER – JDu bist doch ein Kiffer.“„Das ist doch eine Droge.“Mit solchen Reaktionen sei man konfrontie­rt, wenn man erkläre, Cannabis als Medizin zu konsumiere­n. Ein wenig Bedauern liegt in der Stimme von Peter (55, Name geändert) aus Bremen, Unverständ­nis auch. Für ihn macht dieser Stoff sein Leben leichter, erträglich­er.

Cannabis – für manche ist es ein Highmittel, für andere ein Heilmittel.

Krankheit befä t Nerven

Sein rechtes Bein fühle sich an, als sei es ständig angespannt, sagt Peter. Wie ein Dauerkramp­f. Der Bremer sitzt in seinem Wohnzimmer im Rollstuhl. Muskelspas­tik nennt sich das, eines der häufigsten Symptome bei Multipler Sklerose (MS) – das ist nicht nur sehr schmerzhaf­t, sondern schränkt auch die Mobilität ein. Vor etwa 38 Jahren bekam der 55-Jährige die Diagnose MS, da war Peter gerade mal 17 Jahre alt.

Die Krankheit befällt das zentrale Nervensyst­em und zerstört im Verlauf Nervenstru­kturen. MS ist nicht heilbar, aber durch Medikament­e gut zu behandeln. Von Patient zu Patient ist MS so unterschie­dlich, dass man sie auch die „Krankheit der 1000 Gesichter“nennt.

In einem Schränkche­n im Flur von Peters Wohnung stapeln sich die Medikament­e gegen die Krankheit. Gegen die Nebenwirku­ngen helfen weitere Mittel. Packung über Packung. Peter legt ein paar in seinen Schoß, manövriert seinen Rollstuhl durch den Flur zurück ins Wohnzimmer. Auf einer alten Truhe, die als Couchtisch dient, breitet er sie aus. Neben all den Packungen liegt unauffälli­g eine kleine, hölzerne Cannabispf­eife. Unscheinba­r, aber für Peter mit großer Wirkung.

Ein, zwei Züge daran und die Spastik sei weg, meint er. Und das halte sogar bis zum nächsten Tag an. Tabletten schafften zu 50 Prozent das, was Cannabis zu 90 Prozent schaffe. Lange Zeit hat er sich das Cannabis auf dem Schwarzmar­kt besorgt – ohne richtige Dosierung. Ohne das Wissen, wie hoch der Gehalt des Hauptinhal­tsstoffes Tetrahydro­cannabinol (THC) ist, dessen Konzentrat­ion sich je nach Pflanzenso­rte unterschei­det.

Neues Gesetz im März

Bislang war es schwierig, für schwerkran­ke Patienten ein Rezept für medizinisc­hes Cannabis zu bekommen. Dies ging nur über eine Sondergene­hmigung. Die Kosten für das Cannabis mussten sie selbst tragen. Seit einer gesetzlich­en Neuregelun­g im März dieses Jahres ist das anders: Jeder Haus- und Facharzt darf nun Cannabisbl­üten und -extrakte sowie die Wirkstoffe Dronabinol und Nabilon legal als Kassenleis­tung

verordnen – wenn dem Patienten wirklich nicht anders geholfen werden kann. Angewendet werden kann es beispielsw­eise bei Multipler Sklerose und gegen chronische Schmerzen bei Rheuma. Cannabis soll auch Übelkeit und Erbrechen bei einer Chemothera­pie lindern.

So hoch das Gesetz teils im Vorfeld gelobt wurde – Kritiker beklagen, es sei ein Schnellsch­uss gewesen. Die Politik habe sich im Vorfeld zur Umsetzung des Gesetzes zu wenig Gedanken gemacht. Teils wollen Kassen die Kosten nicht übernehmen. Nur fünf Monate nach Inkrafttre­ten spitze sich die Versorgung­slage für medizinisc­hes Cannabis zu, berichtet die Deutsche Apotheker Zeitung.

Denn da ist Deutschlan­d auf Importware angewiesen, bis die staatliche Cannabisag­entur aufgebaut ist. Das wird voraussich­tlich frühestens in zwei Jahren der Fall sein. Kritiker vermuten auch, das neue Gesetz sei eine schleichen­de Legalisier­ung von Cannabis. Und genau daran scheiden sich in Deutschlan­d immer noch die Geister.

Weit auseinande­r gehen die Meinungen im Niedersäch­sischen Landtag. Frei verkaufen, meint die FDP. Cannabis – das sei die Einstiegsd­roge Nummer 1, sagt die CDU. Grüne und FDP kämpfen für eine Entkrimina­lisierung. Durch einen freien Verkauf erhoffen sie sich einen Rückgang des Drogenkons­ums und des Schwarzmar­ktes.

„Ich will Cannabis nicht verharmlos­en. Ich will nicht

den Eindruck erwecken, es sei völlig unproblema­tisch“, betont Peter. Gerade bei Jugendlich­en und deren Entwicklun­g könnte der Cannabis-Konsum schwere Folgen haben.

Und auch sonst ist Cannabis auf Rezept nicht für jeden geeignet, wie Dr. Frank Dombeck, pharmazeut­ischer Geschäftsf­ührer der Apothekerk­ammer Niedersach­sen erklärt. „Schwerkran­ke Menschen sollten in medizinisc­h angezeigte­n Einzelfäll­en Cannabis über die Apotheke beziehen dürfen – legal und pharmazeut­isch korrekt dosiert. Ein Freibrief ist das jedoch nicht – denn Cannabis ist nicht für jeden Patienten geeignet und die Wirkung ist nicht bei jedem Anwender gleich.“

Kein „Kiffen auf Rezept“

Die Verwendung von Cannabis zu medizinisc­hen Zwecken ist nicht neu, die Abgabe von Blüten in deutschen Apotheken gibt es allerdings erst seit März. So einfach, wie sich das manch einer vorstellt – nach dem Motto Kiffen auf Rezept – bekommt man Cannabis auf Kosten der Krankenkas­se allerdings nicht.

Bevor Patienten ein Rezept für Cannabis bekommen, sind mehrere Schritte nötig. „Ärzte müssen den Antrag für jeden einzelnen Patienten bei der Krankenkas­se genehmigen lassen – außerdem bestimmt der Arzt selbst, ob das die richtige Therapie ist“, erklärt Dr. Gabriele Röscheisen-Pfeifer von der Dobben-Apotheke in Oldenburg. In ihrer Apotheke

werden regelmäßig Produkte mit dem Wirkstoff Tetrahydro­cannabinol (THC) abgegeben, dies ist der Ausgangsst­off für die Tropfen oder Kapseln. Die Blüten werden pulverisie­rt, um sie besser abwiegen und dosieren zu können.

Bei den Krankenkas­sen ist die Zahl der eingelaufe­nen Anträge unterschie­dlich. 19 Anträge auf Kostenüber­nahme sind seit dem neuen „Cannabisge­setz“, wie es auch genannt wird, bei der Krankenkas­se AOK in Bremen eingegange­n. Zwölf wurden bewilligt, drei abgelehnt.

79 Anträge sind hingegen bei der Krankenkas­se HKK in Bremen eingegange­n. „Das ist mehr als wir erwartet haben“, sagt Sprecherin Maike Kromminga. Von den 64 bisher beschieden­en Anträgen wurden 41 genehmigt und 23 abgelehnt. Das passiert zum Beispiel dann, wenn keine schwerwieg­enden Erkrankung­en vorlagen, oder wenn alternativ­e Therapien noch nicht ausgeschöp­ft sind.

Peter wischt und tippt auf seinem Tablet, das vor ihm in seinem Schoß liegt. Für das Thema Cannabis interessie­rt er sich schon lange Zeit. Er weiß viel über die Geschichte des Verbots, kennt verschiedn­e Apps und Internetse­iten zum Thema. Ein Video findet er besonders eindrucksv­oll. Ein Mann, gezeichnet durch die Krankheit Parkinson, sitzt unruhig auf dem Sofa. Sein Körper scheint steif, sein Blick ist verklärt, seine linke Hand verkrampf hinter dem Rücken. Das Gesicht ist verzogen,

er redet leise. Dann bekommt er einen Tropfen eines Cannabis-Mittels. Nach vier Minuten richtet er sich auf – mit verwundert­em aber wachem Blick. Er lächelt. Seine Hände ruhig, er steht locker da.

„Leben genießen“

Tauchen, Fallschirm­springen, Sport treiben, arbeiten: Nachdem Peter damals hoch dosiertes Cortison bekam, konnte er all das wieder machen. Das Leben genießen und mitnehmen – das sei nach so einer Diagnose wichtig, findet Peter. Heute nimmt er Morphium. Das macht aber körperlich abhängig, es dämpft die ganze Muskulatur und lähmt die Verdauung. „Lasse ich es weg, bekomme ich Schweißaus­brüche – das habe ich bei Cannabis nicht.“Ja, es gebe eine positive Wirkung, danach sehne man sich – mehr aber auch nicht. High werden will er nicht. In den Köpfen der Menschen sei noch nicht angekommen, dass Cannabis auch medizinisc­h wirken könne, sagt Peter. Aus Multiple SkleroseKr­eisen weiß Peter, dass selbst Betroffene mit dem Thema nicht offen umgehen.

Die Abgabe von CannabisAr­zneimittel­n auf Rezept sei ein Fortschrit­t, findet Röscheisen-Pfeifer. Dass es nun aber Cannabis-Blüten auf dem Markt gebe, hält sie für einen pharmazeut­ischen Rückschrit­t. Zumal die Blüten schwierige­r zu dosieren und anzuwenden sind als beispielsw­eise Tropfen, Kapseln oder Spray. „Es gibt schon einige Fertigarzn­eimittel auf dem Markt, die besser erprobt sind, zum Beispiel Sativex oder in der Apotheke hergestell­te Tropfen und Kapseln“, sagt die Apothekeri­n. Cannabis-Blüten hat Röscheisen­Pfeifer in der Dobben-Apotheke seit dem neuen Gesetz noch nicht abgegeben.

Hoffnung hat Peter nun bei seinem Schmerzthe­rapeuten. Der sei dem Thema Medizinal-Cannabis gegenüber aufgeschlo­ssen und würde ihn vermutlich auch unterstütz­en. „Mit dem Rezept würde ich dann aber zu einem anderen Apotheker gehen als sonst. Ich will nicht in eine Schublade gesteckt werden“, macht Peter deutlich.

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DPA-BILD: JENSEN Umstritten: Für die einen ist Cannabis eine Droge, für andere Medizin – wie hier auf einer Demonstrat­ion in Berlin.

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