LAUTLOSE NACHT
104. FORTSETZUNG
Er liest die Tweets. Das Licht vom Bildschirm spiegelt sich in seiner Schneebrille. Ich hoffe, es kommen noch viel mehr Tweets, dann liest er vielleicht weiter und schießt nicht auf mich, und Mum und Dad können mich vielleicht retten.
Er wirft mein Notebook in den Schnee. Ich will die Tweets lesen, aber er schießt ganz oft aufs Notebook, und mein Armband vibriert und vibriert und vibriert, bis mein Arm kribbelt wie eingeschlafen und mein Notebook nur noch aus tausend winzigen Splittern wie Sommersprossen im Schnee besteht.
Ich glaube, jetzt erschießt er mich.
Aber er wendet sich von mir ab.
Das Licht seiner Taschenlampe wird kleiner und kleiner. Es ist nur noch ein winziger Punkt, und jetzt ist es gar nicht mehr da. Er ist weg! Ich glaube, er hat gesehen, dass die Tweets wie die Federn eines Gerüchts sind und er sie niemals alle wieder einsammeln kann.
Jetzt hab ich nicht einmal mehr das Licht von meinem Notebook.
Schwarze, schwarze Finsternis.
Ich denke daran, wie die Nacht alle Tage verschluckt, und das gefällt mir, weil das so ähnlich ist wie der Wal, der Rabe verschluckt, und mittendrin in dem dunklen Wal bestehen Herz und Seele des riesigen Tiers aus einem tanzenden Mädchen.
Ein Licht kommt auf mich zu, es hüpft auf und ab, weil derjenige, der es trägt, rennt. Es sind Mum und Dad.
Dad beugt sich zu mir runter und nimmt mich in den Arm, und Mum zieht sich ihre großen Handschuhe aus und schiebt sie mir über die Hände. Hinter ihrer Schneebrille sind gefrorene Tränen. Sie bläst ihren Atem in die Handschuhe an meinen Händen.
Ich will ihnen sagen, dass meine Worte stärker waren als seine Schüsse.
Und ich will ihnen sagen, dass die zwitschernden Dreilappglockenvogelküken dafür sorgen, dass die ganze Welt von den armen Leuten in Anaktue und den Tieren erfährt und uns Hilfe schickt.
Im Licht von Dads Taschenlampe fallen weiße Schneeflocken vom Himmel, und ich denke, dass das, was die Leute mir schreiben, überhaupt nicht wie Federn ist, sondern wie Schneeflocken, und sie haben uns schon gefunden und sind überall um uns herum.
Schnee macht kein Geräusch, wenn er fällt.
Wir warten hier, wir drei, ganz dicht beieinander, Ewigkeiten lang. Über uns sind Sterne, und ich denke an die kleinen Vogelbabys, die die Sterne anschauen, damit sie später nach Hause finden. Am Himmel ist ein kleines neues Licht aufgetaucht, wie eine langsame Sternschnuppe, die sich auf uns zubewegt. Aber ich weiß, so was wie Sternschnuppen gibt es gar nicht!
Mum bläst immer noch ihren Atem in meine Handschuhe, lebendig und warm.
Ein Schneeball bewegt sich, dann noch einer und noch einer. Es sind Schneehasen, die über den Schnee in die Dunkelheit davonhüpfen.
Ich spüre meine Finger. Ich habe wieder eine Stimme.
In dieser Not, diesem Übel wird uns
Die letzte Reinheit der Kenntnis des Guten zuteil.
Wallace Stevens
– Ende –
Der Roman „Lautlose Nacht“von Rosamund Lupton ist bei dtv (München, 328 Seiten, 14,90 Euro) erschienen.