Nordwest-Zeitung

Überrasche­nde Entscheidu­ngen am Lago Maggiore

Chinesisch­er Dokumentar­filmer siegt beim 70. Festival in Locarno – Favoriten gehen leer aus

- VON PETER CLAUS

LOCARNO – Diskussion­en am Lago Maggiore: Die zum Ende des 70. internatio­nalen Filmfestiv­als Locarno verkündete­n Jury-Entscheide haben viel Pro und Contra ausgelöst. Überrascht hat vor allem die Vergabe des Goldenen Leoparden an die Dokumentat­ion „Mrs. Fang“des chinesisch­en Regisseurs Wang Bing.

Die Auszeichnu­ng des Films über das Sterben einer an Alzheimer leidenden 68Jährigen mit dem Hauptpreis wurde lebhaft diskutiert. Manche in Locarno fragten sich, ob dieser Film nicht eine ethische Grenze überschrei­te. Denn Wang Bing beobachtet das Sterben eines Menschen, der dem auf Grund seiner Krankheit weder zustimmen noch sich dagegen wehren kann. Die Jury hat mit dem Der chinesisch­e Regisseur Wang Bing

Goldenen Leoparden jedenfalls nachdrückl­ich für den Film votiert.

Auch Deutschlan­d hat Anteil an der Auszeichnu­ng, denn neben französisc­hen und chinesisch­en haben ihn auch deutsche Geldgeber produziert. Das Werk wird zurzeit auch in einer Retrospekt­ive auf der „documenta“in Kassel vorgestell­t.

Manches Erstaunen lösten auch die Ehrungen der besten Schauspiel­er aus. Die Deutsche Johanna Wokalek in „Freiheit“und der US-Amerikaner Harry Dean Stanton in „Lucky“zählten zu den Favoriten. Ausgezeich­net wurden jedoch die Französin Isabelle Huppert in der Rolle einer unsympathi­schen Lehrerin in „Madame Hyde“(Frankreich/ Belgien) und der Däne Elliott Crosset Hove als ein in Gewalt verstrickt­er Arbeiter in „Winterbrüd­er“(Dänemark/Island).

Mit Beifall bedacht wurde die Vergabe des Spezialpre­ises der Jury an den brasiliani­schfranzös­ischen Spielfilm „Gute Manieren“(Regie: Juliana Rojas, Marco Dutra). Das Familiendr­ama erzählt die Geschichte eines Werwolfs. Eine Horror-Story, die sich zum scharfen Kommentar auf die zunehmende Profitgier in der westlichen Welt weitet.

Vom gleichen Format ist der Spielfilm „9 Finger“. Der Franzose F.J. Ossang wurde dafür als bester Regisseur gekürt. Die mit surrealen Bildern fesselnde Gesellscha­ftsparabel steht beispielha­ft für jene Filmkunst, die vom Festival in Locarno seit Jahrzehnte­n besonders gefördert wird: publikumsw­irksam, gedankenre­ich, formal originell.

Auch einige Hoffnungen deutscher Filmschaff­ender haben sich erfüllt. Für das von Produzente­n aus Deutschlan­d, der Dominikani­schen Republik und Argentinie­n finanziert­e Drama „Cocote“von Regisseur Nelson Carlo de Los Santos Arias gab es den Preis für den Besten Film der dem Experiment­ellen gewidmeten Sektion „Signs of Life“.

Auf der Piazza Grande von Locarno gab es ebenfalls einen Erfolg für das deutsche Kino. Der dort außerhalb des Wettbewerb­s gezeigte Spielfilm „Drei Zinnen“von Regisseur Jan Zabeil gewann den „Variety Piazza Grande Award“. Dieser Preis wird vom US-amerikanis­chen Branchenbl­att „Variety“an einen künstleris­ch überzeugen­den Film vergeben. Der Publikumsp­reis ging an die luftige US-amerikanis­che Komödie „The Big Sick“.

Trotz Verwunderu­ng über manche Auszeichnu­ng fällt das Fazit des Jubiläumsf­estivals in Locarno positiv aus. Starauftri­tte (Fanny Ardent, Franco Nero und Jürgen Vogel) sorgten für Glanz, das Gros der Filme hat begeistert.

 ?? DPA-BILD: URS FLUEELER ??
DPA-BILD: URS FLUEELER

Newspapers in German

Newspapers from Germany