Britische Herrschaft endete chaotisch
.pannungen zwischen Moslems und Hindus forderten in Indien zahlreiche Opfer
Eine Explosion der Gewalt überschattete die Geburtsstunde von zwei Staaten: 1947 wurden Hunderttausende auf dem Subkontinent getötet. Bis heute sind die Wunden nicht verheilt.
NEU-DELHI – „Lauf Milkha, lauf“, schrie der Vater, bevor ihn die Angreifer mit Messern erstachen. Der OlympiaSportler Milkha Singh war um die 15, als sein Vater vor seinen Augen ermordet wurde. Sein Heimatdorf Kot Addu, bei Multan im heutigen Pakistan, war so abgelegen, dass nicht einmal eine Zeitung den Weg dorthin fand. Neuigkeiten erhielten die Einwohner nur, wenn jemand in die nächste Stadt fuhr.
Im August 1947 wurde das kleine Dorf davon überrascht, dass der indische Subkontinent nun in zwei Staaten geteilt war: Als ein mordlustiger Mob das Dorf erreichte, verteidigte Singhs Vater tapfer seine Familie, bis er getötet wurde. Milkha gelang es, zu fliehen. Er schloss sich Tausenden Sikhs und Hindus an, die sich mit dem Zug auf dem Weg nach Indien machten. Der Sportler, der für Indien bei drei Olympischen Spielen als 400-Meter-Läufer teilnahm, verlor mit der Teilung seine Eltern und seine Heimat.
Am 14. August 1947 um Mitternacht hörte Britisch-Indien auf zu existieren und zwei unabhängige Nationen waren geboren: Indien und Pakistan. Das Ende der britischen Herrschaft in Südasien verlief chaotisch. Ohne großen Plan und in Eile hatte der britische Kolonialbeamte Sir Cyril Radcliffe ein paar Tage zuvor eine Karte gezeichnet, die die neue Grenze zwischen den beiden Nachbarn Pakistan und Indien festlegte.
Die Radcliffe-Linie teilte die großen Provinzen Punjab und Bengalen, deren Bevölkerung etwa zur Hälfte muslimisch und hinduistisch war, faktisch in der Mitte. Eine
Welle von Gewalt war die Folge. Millionen flohen. Hunderttausende starben.
Gerade im dicht bevölkerten reichen Punjab, wo Hindus, Sikhs und Muslime Jahrhunderte friedlich zusammengelebt hatten, wollten die meisten Menschen in ihrer Heimat bleiben. Der Punjab, die Wiege der Indus-Zivilisation, hatte in seiner Geschichte Griechen, Perser, Mongolen, Mughal-Kaiser, afghanische Könige und Sikh-Herrscher gesehen.
Der Sportler Singh, der Sikh ist, erinnert sich, dass in seinem Dorf im Punjab Muslime, Sikhs und Hindus bis zum August 1947 friedlich zusammenlebten. In der Moschee hätten alle Kinder zusammen gesessen und gelernt, egal welcher Religion sie angehörten. Der plötzliche Ausbruch der Gewalt hätte alle überrascht.
Die pakistanische Historikerin Ayesha Jalal bezeichnet die Teilung Indiens 1947 nach vordergründig religiösen Kriterien als „das wohl dramatischste Ereignis in der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg“. Wie konnten Menschen, deren Familien jahrhundertelang in der gleichen Straße gewohnt hatten, plötzlich aufeinander losgehen? Es ist die Rede vom Genozid. Noch heute gibt es kaum gemeinsame Anstrengungen, den Ursachen auf den Grund zu gehen.
Das Machtvakuum, das die Briten durch ihren überstürzten Rückzug 1947 zurückließen, nutzen einflussreiche Lokalfürsten, Geschäftsleute und Kommandeure für ihre eigenen Zwecke, um sich Land und Besitz anzueignen oder in der Stunde Null einfach vollendete Tatsachen zu schaffen. Noch Monate später tauchten zerstückelte Leichen am Straßenrand auf. Die indische Stadt Amritsar wurde im Zuge der wochenlangen Ausschreitungen in Schutt und Asche gelegt: Der Wiederaufbau dauerte fünf Jahre.
Paranoia und Hass bestimmen immer noch weitgehend das Verhältnis zwischen Indien und Pakistan, die in den 70 Jahren ihrer Existenz bereits drei Kriege gegeneinander geführt haben und zu Atommächten avanciert sind. Kaschmir, das malerische Bergtal im Himalaja, ist immer noch ein Zankapfel zwischen den beiden Staaten.
Für Singh, dessen Lebensgeschichte 2013 („Der Lauf seines Lebens“) verfilmt wurde, ist die Erinnerung an die blutigen Ausschreitungen immer noch frisch. „Sie verfolgen mich bis heute“, sagt er.