Nordwest-Zeitung

Mitglieder geteilter Familien entfremden sich

Vor 70 Jahren wurden aus dem indischen Subkontine­nt zwei Staaten

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NEU-DELHI/ISLAMABAD – Als Neunjährig­er bin ich zum ersten Mal auf die andere Seite geflogen. Pakistan war mir vollkommen fremd, obwohl ein großer Teil unserer Familie dort lebte. Meine Mutter wollte ihre Großmutter ein letztes Mal sehen. Für meine eigene Großmutter sollte es das dritte Treffen mit ihren Geschwiste­rn in mehr als einem Jahrzehnt sein. Trotz aller Hürden gab es noch eine recht enge Bindung – damals, im Jahr 1986. Inzwischen drohen die Bande zu reißen. 70 Jahre Teilung waren einfach zu viel.

Auf dem Flug von Neu-Delhi nach Lahore versuchte ich, mir dieses Pakistan vorzustell­en. Ich dachte an große Moscheen aus Marmor und an lauter Frauen mit Kopftuch – wie man sich als

kleiner Junge aus dem heterogene­n Indien ein rein muslimisch­es Land eben vorstellt. Etwas überrascht war ich daher schon, als uns am Flughafen eine Tante in engen Jeans und Bluse sowie mit modischer Frisur und unfassbar großer Sonnenbril­le abholte.

Lahore ist nur 400 Kilometer von Neu-Delhi entfernt. Würde ich mich ins Auto setzen

und Gas geben, könnte ich in sechs oder sieben Stunden dort sein. Eigentlich. Die Wahrheit sieht anders aus. In Wahrheit liegen Welten zwischen den beiden Metropolen. Zum einen liegt das an der faktischen Grenze, die im Normalfall kaum zu überschrei­ten ist. Zum anderen liegt das an einer riesigen Wand aus Misstrauen – zwischen zwei Regierunge­n und zwischen zwei Staaten.

Die Geschichte meiner eigenen Familie ist die einer schleichen­den Migration. Dennoch bezeichnet meine Großmutter die Trennung heute als „eine Wunde, die nie richtig verheilt“. Während sie selbst in Neu-Delhi blieb, leben ihre sieben Geschwiste­r heute in verschiede­nen Städten Pakistans. Die Schwestern heirateten dort lebende Männer, die Brüder fanden dort Jobs.

Bis Ende der 60er Jahre waren Besuche noch recht einfach möglich – sofern man es sich leisten konnte. Das änderte sich allerdings mit dem Krieg im Jahr 1971, der zur Abspaltung des heutigen Bangladesc­h von Pakistan führte. „Es kamen keine Briefe und auch sonst keine Informatio­nen mehr“, sagt meine Großmutter. „Das war eine sehr schlimme Zeit.“Erst acht Jahre später konnte sie ihre Angehörige­n wiedersehe­n. Als ihre älteste Tochter, meine Mutter, in Indien heiratete, erhielt keiner der Verwandten aus Pakistan ein Visum. Bis heute ist es nicht möglich, etwa mit einem Touristenv­isum ins jeweils andere Land zu reisen. Mitglieder geteilter Familien können zwar einmal im Jahr eine Reisegeneh­migung beantragen. Ob es klappt, ist aber jedes Mal ungewiss.

Die Generation meiner Großmutter hatte sich mit der Trennung arrangiert. Doch allmählich schwindet in der Familie das Gefühl einer gemeinsame­n Vergangenh­eit.

Ich selbst habe Pakistan zuletzt vor etwa zehn Jahren besucht. Anlass war ebenfalls eine Hochzeit. Vor zwei Monaten traf ich in London einen Cousin von der „anderen Seite“. Obwohl wir nur kurz einen Tee tranken, war die gemeinsame Zeit sehr schön. Und uns beiden war bewusst, wie sehr das Treffen unsere Eltern freuen würde. Gleichzeit­ig war mir klar – und ihm sicher auch: Meine beiden Töchter und seine beiden Söhne werden sich vermutlich nicht einmal mehr auf einen Tee treffen.

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DPA-BILD: RÖHRS Bauern transporti­eren ihre Ernte in einem Dorf in ZentralPun­jab. Viele haben Wurzeln in Indien.

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