Wenn Kassen-Prognosen daneben liegen
Das Gesundheitssystem in Gefahr? Berechnungen geben Entwarnung
BERLIN – Die Kosten für die Gesundheit steigen in Deutschland seit Jahren. Nicht nur der demografische Wandel stelle das Land vor große Herausforderungen, warnt die AfD in ihrem Wahlprogramm, nun müssten auch noch Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber versorgt werden. „Unser Gesundheitssystem ist in Gefahr“, lautet das Fazit der Partei. Der Journalistico-Faktencheck.
Von 1992 bis 2015 sind die Ausgaben von Staat, Krankenversicherung und Privathaushalten von 159,5 Milliarden Euro auf 344,2 Milliarden Euro gestiegen. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Die gesetzliche Krankenversicherung, in der mit 72,3 Millionen Menschen mit Abstand die meisten Bundesbürger versichert sind, hat im gleichen Zeitraum ebenfalls einen Ausgabenanstieg erlebt: Statt 98,7 Milliarden Euro wie im Jahr 1993 kostete die Versorgung ihrer Versicherten 2015 rund 200 Milliarden Euro.
Dieser Anstieg ist jedoch weniger dramatisch, als es zunächst scheint. Denn in diesen Zahlen ist die Inflation nicht berücksichtigt. Der Wertverfall des Geldes sollte aber unbedingt beachtet werden, wenn man heutige Preise mit denen aus der Vergangenheit vergleichen will. Die Preisbereinigung zeigt: Die Summe, die die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 1993 ausgegeben hat, entspricht in den Preisen des Jahres 2015 rund 143 Milliarden Euro (Journalistico-Berechnung). Das relativiert den Kostenanstieg – von einem zunächst angenommenen Plus von 102,6 Prozent auf ein Plus von lediglich 39,9 Prozent.
Nein. Um beurteilen zu können, ob die steigenden Gesundheitsausgaben tatsächlich eine Bedrohung für den Staat beziehungsweise die Gesellschaft darstellen, muss die Wirtschaftsleistung als Grundlage unseres Wohlstands herangezogen werden. Erst dann lässt sich einschätzen, ob das Gesundheitssystem tatsächlich in Gefahr ist. Hier zeigt sich: Der Kostenanstieg überfordert das Land nicht. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung entsprachen im Jahr 1992 rund 5,8 Prozent der Wirtschaftsleistung, 2015 waren es 6,6 Prozent. Nimmt man wieder alle Gesundheitsausgaben in Deutschland zusammen, zeigt sich ein zwar deutlicherer, aber noch kein dramatischer Anstieg von 9,4 auf 11,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Migranten kommen nicht erst seit der Flüchtlingskrise, sondern seit vielen Jahren nach Deutschland. Die bereits erwähnten Zahlen zeigen, dass das keineswegs dazu geführt hat, dass das Gesundheitssystem nicht mehr zu finanzieren wäre, im Gegenteil: Erst im Juli musste der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung seine Beitragsprognose revidieren. Die Kassenfinanzen sind stabiler als erwartet. „Wir haben mit unseren bisherigen Prognosen daneben gelegen“, räumte Verbandschefin Doris Pfeiffer ein. Denn es stellte sich heraus, dass die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung geringer sind und sich die Einnahmen deutlich besser entwickeln als erwartet. Fazit: Die von der AfD behauptete dramatische Lage gibt es nicht.
Daniel Baumann ist Wirtschaftschef der „Frankfurter Rundschau“. Für das Recherche-Team Journalistico.de stellt er Politikeraussagen auf den Prüfstand.