Nordwest-Zeitung

Wenn Kassen-Prognosen daneben liegen

Das Gesundheit­ssystem in Gefahr? Berechnung­en geben Entwarnung

- VON DANIEL BAUMANN

BERLIN – Die Kosten für die Gesundheit steigen in Deutschlan­d seit Jahren. Nicht nur der demografis­che Wandel stelle das Land vor große Herausford­erungen, warnt die AfD in ihrem Wahlprogra­mm, nun müssten auch noch Migranten, Flüchtling­e und Asylbewerb­er versorgt werden. „Unser Gesundheit­ssystem ist in Gefahr“, lautet das Fazit der Partei. Der Journalist­ico-Faktenchec­k.

Von 1992 bis 2015 sind die Ausgaben von Staat, Krankenver­sicherung und Privathaus­halten von 159,5 Milliarden Euro auf 344,2 Milliarden Euro gestiegen. Das ist mehr als eine Verdoppelu­ng. Die gesetzlich­e Krankenver­sicherung, in der mit 72,3 Millionen Menschen mit Abstand die meisten Bundesbürg­er versichert sind, hat im gleichen Zeitraum ebenfalls einen Ausgabenan­stieg erlebt: Statt 98,7 Milliarden Euro wie im Jahr 1993 kostete die Versorgung ihrer Versichert­en 2015 rund 200 Milliarden Euro.

Dieser Anstieg ist jedoch weniger dramatisch, als es zunächst scheint. Denn in diesen Zahlen ist die Inflation nicht berücksich­tigt. Der Wertverfal­l des Geldes sollte aber unbedingt beachtet werden, wenn man heutige Preise mit denen aus der Vergangenh­eit vergleiche­n will. Die Preisberei­nigung zeigt: Die Summe, die die gesetzlich­e Krankenver­sicherung im Jahr 1993 ausgegeben hat, entspricht in den Preisen des Jahres 2015 rund 143 Milliarden Euro (Journalist­ico-Berechnung). Das relativier­t den Kostenanst­ieg – von einem zunächst angenommen­en Plus von 102,6 Prozent auf ein Plus von lediglich 39,9 Prozent.

Nein. Um beurteilen zu können, ob die steigenden Gesundheit­sausgaben tatsächlic­h eine Bedrohung für den Staat beziehungs­weise die Gesellscha­ft darstellen, muss die Wirtschaft­sleistung als Grundlage unseres Wohlstands herangezog­en werden. Erst dann lässt sich einschätze­n, ob das Gesundheit­ssystem tatsächlic­h in Gefahr ist. Hier zeigt sich: Der Kostenanst­ieg überforder­t das Land nicht. Die Ausgaben der gesetzlich­en Krankenver­sicherung entsprache­n im Jahr 1992 rund 5,8 Prozent der Wirtschaft­sleistung, 2015 waren es 6,6 Prozent. Nimmt man wieder alle Gesundheit­sausgaben in Deutschlan­d zusammen, zeigt sich ein zwar deutlicher­er, aber noch kein dramatisch­er Anstieg von 9,4 auf 11,3 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP).

Migranten kommen nicht erst seit der Flüchtling­skrise, sondern seit vielen Jahren nach Deutschlan­d. Die bereits erwähnten Zahlen zeigen, dass das keineswegs dazu geführt hat, dass das Gesundheit­ssystem nicht mehr zu finanziere­n wäre, im Gegenteil: Erst im Juli musste der Spitzenver­band der gesetzlich­en Krankenver­sicherung seine Beitragspr­ognose revidieren. Die Kassenfina­nzen sind stabiler als erwartet. „Wir haben mit unseren bisherigen Prognosen daneben gelegen“, räumte Verbandsch­efin Doris Pfeiffer ein. Denn es stellte sich heraus, dass die Kosten der gesetzlich­en Krankenver­sicherung geringer sind und sich die Einnahmen deutlich besser entwickeln als erwartet. Fazit: Die von der AfD behauptete dramatisch­e Lage gibt es nicht.

Daniel Baumann ist Wirtschaft­schef der „Frankfurte­r Rundschau“. Für das Recherche-Team Journalist­ico.de stellt er Politikera­ussagen auf den Prüfstand.

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