Nordwest-Zeitung

21. FORTSETZUN­G

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Ludwig Bongart nahm sein Handy vom Ohr. „Ohne Ulf Speicher gäbe es das hier alles gar nicht. Er war für mich . . . ein Vorbild.“

„Und – hat jemand von Ihnen einen Verdacht, wer Herrn Speicher getötet haben könnte?“, fragte Ann Kathrin.

Betretenes Schweigen. Dann ging Ludwig Bongart zum großen IKEA-Regal. Er zog einen Karton heraus und ließ ihn bewusst aus einiger Höhe auf den Tisch fallen. Es knallte laut. Der Karton lag jetzt zwischen all den Liebesbrie­fen.

„Das sind Drohbriefe“, sagte er, griff in die Kiste, hob ein paar hoch und ließ sie wieder in den Karton segeln. Er sah einzelne an. „Anonyme natürlich.“

Im Regal fielen jetzt einige Aktenordne­r um, die vorher durch die Kiste gestützt worden waren. Ludwig griff zwei davon und warf sie auch auf den Tisch.

„Viele haben allerdings auch Namen und Anschrift. Das nennt man dann wohl Beschwerde­briefe. Die mit Adressen haben wir abgeheftet. Die anderen sind in der Kiste gelandet.“

Ann Kathrin Klaasen öffnete den ersten Ordner. „Sie beantworte­n so etwas?“

Ludwig spottete: „Aber klar. Wir haben doch sonst nichts zu tun. Wenn die Frau vom Bäcker sich bedroht fühlt, weil ihr Enkel mit unserem Holger Karten spielt, dann müssen wir sie beruhigen. Wahrschein­lich hat ihr Enkel Holger nur das ganze Taschengel­d abgezockt ...“Er stockte und fragte unsicher: „Darf ich mal zum Klo?“

Ann Kathrin nickte. „Natürlich.“

Auf dem Weg zur Toilette kam Ludwig an Weller und Tim Gerlach vorbei. Weller registrier­te die wütenden Blicke, die die beiden wechselten.

Weller nickte Tim zu: „Also für den Augenblick wärs das. Ich denke, wir werden noch Fragen an Sie haben und uns dann an Sie wenden.“Tim ging unsicher zur Tür. Weller hatte das Kochbuch noch in der Hand. Er hielt Ludwig vor der Toilette an. „Was ist das alles?“, fragte er und zeigte auf die vielen Kisten im Raum.

„Das sind Spenden für unseren Basar. Wir machen das jedes Jahr. Dieses Jahr feiern wir das zehnjährig­e Bestehen unseres Vereins. Am 7. Mai.“

Ludwig versuchte jetzt, an Weller vorbeizuko­mmen, aber Weller hielt ihn fest. „Wie muss ich mir Ihre Arbeit vorstellen? Was machen Sie hier den ganzen Tag?“

„Das ist Hilfe zum eigenständ­igen Leben.“

„Ja, und wie sieht so was aus?“

Ludwig schaute auf seine Uhr. „Heute zum Beispiel. Einkaufen.“„Wie, einkaufen?“„Na ja, unsere Klienten haben Schwierigk­eiten, sich selbst ihr Geld einzuteile­n. Einige können nicht mal die Aufschrift auf den Dosen lesen. Es ist ganz einfache, praktische Lebenshilf­e, die wir leisten.“

Weller fand das im Prinzip gut und zeigte sich beeindruck­t.

„Ist noch was?“, fragte Ludwig.

„Ja, erstens würde ich dieses Buch gerne kaufen und zweitens, wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie mir vielleicht was mitbringen, wenn Sie sowieso einkaufen gehen?“

Ludwig Bongart lächelte. „Klar Mann, kein Problem. Kaufen können Sie das Buch aber nicht. Wir geben es nur gerne gegen eine kleine Spende ab.“

Weller zog fünfzig Euro aus der Tasche und hielt sie Ludwig hin. Der pfiff durch die Lippen. Dann musste Weller ihn leider enttäusche­n. „Für Buch und Einkauf zusammen.“

Ludwig sah erstaunt, wie Weller die Zutaten eines Rezeptes abschrieb. Dann reichte Weller ihm den Zettel.

„Soll ich Ihnen den Kram bringen oder holen Sie ihn hier ab?“

„Ja, ähm, äh ... würden Sie das denn für mich tun?“

„Klaro. Wo wohnen Sie denn?“, fragte Ludwig.

Nebenan im Besprechun­gsraum kam Ann Kathrin Klaasen nicht umhin, die zweite Bombe platzen zu lassen. „Leider haben wir noch eine zweite Leiche. Sagt Ihnen der Name Kai Uphoff etwas?“

Paul Winter erlitt einen Kreislaufz­usammenbru­ch. Das Schwindelg­efühl kam überrasche­nd. Er versuchte noch, sich an der Tischkante festzuhalt­en, dann aber schlug er hart auf dem Boden auf.

Paul Winter hatte noch genau zwölf Stunden zu leben.

Ann Kathrin Klaasen überquerte den Fischteich­weg vor der Polizeiins­pektion und ging durch die Marktpassa­ge schnurstra­cks auf die Markthalle zu, vorbei an der Brasserie, vor der bereits Schüler saßen und ihre Cola tranken. Einen besseren Ort, um schnell etwas Gutes zu essen, kannte sie in Aurich nicht. In der Markthalle wurden frisch gepresste Fruchtsäft­e angeboten und Kaffeegebä­ck, dem Ann Kathrin nur selten widerstehe­n konnte. Es gab einen Italiener, der über mehrere Meter Antipasti ausstellte. Sie mochte es, wenn sie das Essen sehen konnte, bevor sie es kaufte.

Vor der Markthalle stand eine Skulptur, an der sie schon oft achtlos vorbeigela­ufen war. Eine Sau, die ihre drei Ferkel säugte. Die Ferkel sahen fröhlich aus, mit fast menschlich lachenden Gesichtern. Direkt daneben ragte ein Stück von einem Wikingersc­hiff aus der Markthalle heraus, als habe es sie eben gerammt. Kinder kletterten darauf herum. Draußen saßen Familien beim Milchkaffe­e und genossen die milde Frühlingss­onne.

Ann Kathrin blieb stehen. Irgendwie kam sie nicht an den drei Ferkeln und ihrer säugenden Mutter vorbei. FORTSETZUN­G FOLGT

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